Am Ufer des Lago di Mergozzo im unteren Ossolatal befindet sich eines der wenigen Sternerestaurants der norditalienischen Region. Im rundum verglasten Restaurant „Piccolo Lago" verwöhnt der ehemalige Surfer und Zwei-Sterne-Koch Marco Sacco seine Gäste mit raffinierten Interpretationen der uritalienischen Nonno-Küche.
Nimm die Vergangenheit auf, gestalte sie in der Gegenwart, projiziere sie in die Zukunft" ist bis heute das Credo und die Philosophie seiner Kreationen, für die der ehemalige Surfer Marco Sacco bereits seit 2003 stolz zwei Guide-Michelin-Sterne am Revers trägt. Sacco sieht sich als „bodenständiger Reisender, Neugieriger und Entdecker – so einfach wie ein Aal". Er liebt und interpretiert in seinem zweistöckigen Kochtempel die cucina tradizionale italiana – die italienische Traditionsküche.
Saccos Nonni, also Großväter, waren noch Fischer und Bauern. Nur Fleisch, Fisch, Eier, Milch oder Käse kamen auf den Tisch. Mit 22 Jahren fasste er nach allerlei „Weltenbummlerei" den Entschluss, nicht nur Koch, sondern gleich Sternekoch zu werden und das Erbe des Vaters anzutreten, Althergebrachtes mit Blick in die Zukunft ehren. Schon als Neunjähriger stand er am Herd in der kleinen zentralen Küche. Nach einer Runde auf den Wellen der Weltmeere als Profisurfer kam er zurück: „Ich wollte nicht nur auf der Wasseroberfläche bleiben. Mein Vater gab mir sechs Monate, schickte mich zum Lernen der Haut-Cuisine-Techniken nach Frankreich und drückte mir 1987 schließlich die Schlüssel in die Hand", erzählt der dynamische Küchenchef.
Seine Küche ist für ihn wie ein Theater, nur ohne Theatralik
Er lebt kulinarische „Italianität" auf höchstem Niveau. Eine elegant verspielte Leichtigkeit findet sich in Saccos Handschrift ebenso wie eine Verwurzelung und „Provinzialität". Den Umbau des Ristorante realisiert er 2008 nach seinem Gusto als Raum-in Raum-Konzept, um das Zentralküchen-Prinzip zu erhalten. Durch eine Stelzenkonstruktion scheint das rundum verglaste Restaurant zwischen Himmel und Wasser des Mergozzo-Sees zu schweben. Die kleine Seeperle wird zum Logo-Emblem.
Im Gang zum Gastraum des Genuss-Tempels sind die Trüffel von Piemonte wie auf einem Altar aufgebahrt. Die Weinkarte mit lokalen und internationalen Tropfen ist dick wie die Bibel. Im Keller lagern Vini aus Italien und dem Rest der Welt. Geduldig warten sie auf ihre große Stunde im Glas. Vorneweg darf es prickeln: Der auf der Hefe gereifte Barbaglia Curticella Brut, ein leicht zitroniger Erbaluce-Schaumwein, erzählt von Sommertagen im Piemont. Aus der angrenzenden Lombardei perlt ein Antica Fratta Essence Satèn fein im Glas. Der Chardonnay mit Tendenz zum grünen Apfel passt gut zu Fisch.
Die „technische Showküche" – ein mittig verorteter offener Glaskubus – repräsentiert die typisch italienische Feuerküche. Für Sacco ein wärmender Schutzort, der den Gästen die Geborgenheit seiner Kindheit vermittelt. Hinter matt abgedunkelten, dicken Glaswänden fackelt das Licht des Hightech-Feuergrills. Man meint, noch den kräftigen Geruch von Holzfeuer und Vergangenheit zu riechen.
Seine Küche sei für ihn wie ein Theater – aber ohne abgehobene Theatralik. Eine ganze Brigade an jungen Köchen experimentiert, forscht und testet die Verarbeitung der vorwiegend regionalen Produkte. Das Kreieren von neuen Rezepturen findet im Laborteil mit modernsten Technologien statt. 40 Mitarbeiter arbeiten im „Piccolo Lago". Souschef Francesco Mirolla, Saccos rechte Hand, testet vor, bevor das endgültige Koch-Artefakt auf dem Löffel des Chefs landet. Der entscheidet, welches es ins ledergebundene Menü-Buch schafft. Manch Süppchen lasse er auch von seinen Enkeln kosten. Das seien die authentischsten Genuss-Experten scherzt der Nonno.
Im oberen Stock hantieren die Köche unter Saccos strengem, aber milde gestimmtem väterlichen Zepter in der Hauptküche. Viele Kochtalente hat er dort ausgebildet. Auf zahlreichen internationalen Reisen die Idee der cucina tradizionale italiana in die Welt bis nach Asien getragen. Sacco pflegt eine Kultur des Heimatverbundenen. Die Perlen-Form des Sees ziert wie erwähnt das Restaurant-Logo. Süßwasserseefisch wie Seeforelle, Zander oder Hecht bringen die Pescatori (Fischer) – auch der angrenzenden Seen, etwa des benachbarten großen Lago Maggiore.
Der Lago di Mergozzo selbst liegt eingebettet im Naturschutzgebiet Fondotoce und gilt als einer der saubersten Seen Europas. 1995 wurde ein Verbot für Motorboote erlassen. Der nur knapp drei Kilometer lange und einen Kilometer breite Alpenrandsee liegt unweit des großen Lago Maggiore. Heute liegen ein Damm und Schwemmland zwischen den beiden Wasserflächen, die bis zum 9. Jahrhundert noch ein See waren.
Neben Aqua und Feuerstätte, auf der einst schwere Töpfe brodelten, ist der Stein ein inspiratives Element des Kochs. Nahe des Fischerorts Mergozzo mit seinem mittelalterlichen Ortskern, den der Hausberg Mont’Orfano vom Toce-Tal trennt, wurde im Bergwerk von Montorfano früher weißer Granit abgetragen. Der Sentiero Azzurro der Picasas – einer der historischen Steinmetz-Pfade – läuft vom unteren Ossolatal bis hoch in die Berge. Mit Eseln hatte man die schweren Steine transportiert.
Marco Sacco wärmt das knusprige Brot auf heißem Granit, hauchdünne Crispies und Rosmarin-Grissini stecken in Steinsockeln, die Butter (burro) kühlt auf Flusssteinen. Die burro hat die Form einer Blume – das Florale ist nun mal in der mikroklimatischen Region durch die weltberühmten Borromäischen Garteninseln Isola Bella und Isola Madre im Lago Maggiore vertreten. Natürlich dürfen die Blütenblättchen auf den Tellergemälden nicht fehlen. Die platziert ein junger Kochkader hochkonzentriert mit einer Pinzette auf der „Trout Ingot". Die mehrere Tage in Himbeergelatine und einem Hauch Orangenöl marinierte und gesmokte Wildlachsforellen-Rolle mit Sakura-Sprossen gehört zu den Signature-Dishes.
Der Chef hat auf dem Teller den Hang zum Orchestralen
Auf der Karte finden sich zwei Menü-Stränge: das „Sacco Innovativo", ein Experimentierfeld mit Ingredienzien und Einflüssen aus der ganzen Welt, der andere mit Traditionsgerichten. Hierzu gehört das cremig-sämige Risotto mit Käse aus der Lombardei. Als Interpretation der cucina povera (Armenküche) wird es auf einem Mergozzo-See-blauem Keramikteller kredenzt – frech garniert mit Tomatenstein-Confit und Salbeiperle. Saccos zweites Signature-Gericht ist ein Flan vom „Königskäse" Bettelmatt – einem Rohmilchkäse aus dem Val d’Ossola. Seine kräftige Tonalität wird durch eine süßliche Senfcreme mit Spritzern einer scharfen Blaubeersauce harmonisiert. Ganz neu auf der Traditionskarte findet sich der feine Carnaroli Gran Riserva. Der „vorgereifte" Reis wird mit Wels, Robiola-Frischkäse, schwarzem Knoblauch und Chlorella-Algen serviert. Das Verfahren kommt aus der Antike und lässt das Korn durch einen erhöhten Stärkeanteil weniger kleben.
Und was ist die neueste Innovativo-Creazione des Maestro di Lago? Ein Stör mit Soja-Marshmallow und Wasabi – obenauf allerlei Geträufel von Blaubeeressig, Sauerteigcreme, Hühner-Rosmarinpulver nebst einer Seefisch-Sauce von gekräutertem Zander und als Crisp knusprige Hühnerhaut. Vertraut und erdend kommt die Kartoffel aus der Feuerglut mit Petersilie und ein paar Erdnüsschen daher. Bei diesem Ingredienzien-Feuerwerk auf der Tellerfläche verliert man fast den Überblick. Der Chef vom „Kleinen See" hat durchaus einen Hang zum Orchestralen.
Als finale Krönung sitzt zum vertrauten Espresso dann noch ein echtes Schätzchen auf einem Eisblock. Die Gianduiotto – eine typische Nougatpraline aus piemontesischen „Tonde Gentili delle Langhe"-Haselnüssen wird von der „Cioccolato La Perla" in Turin eigens für Sacco in Form gegossen und als „Inca’s Gold" mit sakraler Geste serviert. Aber nicht anfassen, sonst schmilzt sie dahin. Diese Riesenpraline will wie ein hauchzartes, aber nicht vor der Endlichkeit geschütztes Juwel auf der Zunge zergehen.
Seit Anfang Juni ist das „Piccolo Lago" endlich wieder geöffnet und wurde durch das gerade erst fertiggestellte „Il Piccolino" ergänzt: ein weiterer Glaskubus. Die Bistrokarte für Lunch und Abenddinner ist ebenso einfach wie vielversprechend: lauwarme Spaghettino, Austern, Kaviar und Limette machen Lust auf sommerlich kurz Buchstabiertes. Eingerahmt vom blau-grünen Farbpanorama nippt sich ein Aperitivo Frizzante am offenen Tresen der neuen Cocktailbar besonders leichtmundig. Der Blick auf den stillen See unterm norditalienischen Sternenteppich ist inklusive. Er soll immer „offen zur Welt bleiben", wünscht sich Marco Sacco. Sein Händedruck zum Abschied ist fest, aber von Herzen warm.