Abseits vom Massentourismus liegt der Lieper Winkel im Osten von Usedom. Bis Ende des 19. Jahrhunderts führte nicht einmal eine Straße in die winzigen Dörfer auf der Halbinsel.
Auf dem Weg zum Lieper Winkel begrüßt einen am Ortsausgang von Suckow Usedoms älteste Bewohnerin. Seit ihr vor 25 Jahren ein riesiger Ast abgebrochen ist, sieht die Suckower Eiche etwas mitgenommen aus. Das darf sie auch, denn sie hat immerhin 700, manche sagen sogar 1.000 Jahre auf dem Buckel. Trotz des Astbruchs wirkt sie immer noch stattlich. Sie ist 20 Meter hoch, ihre Krone ist über 30 Meter breit, und es bräuchte elf händehaltende Erwachsene, um ihren Stamm zu umfassen. Die Suckower Eiche hat sich einen ganz besonderen Ort ausgesucht, sie wächst nämlich auf einem Hügelgrab aus der Bronzezeit. 1298 wurde sie sogar urkundlich erwähnt, als sie Landvermesser des pommerischen Herzogs Bogislaw IV. als Bezugspunkt für eine Grenzmarkierung erwähnten. Manche schreiben der Eiche sogar eine kultische Bedeutung zu und glauben, dass unter ihr germanische Rituale vollzogen wurden.
Die beiden älteren Damen auf dem Fahrrad weisen freundlich den Weg. Ein bisschen Orientierungshilfe kann man hier auch gebrauchen, denn der Lieper Winkel gehört nicht nur zu den schönsten, sondern auch zu den sehr abgelegenen Gegenden Usedoms. Zwar sind es von Liepe nur 30 Kilometer bis zu den quirligen Stränden von Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck. Von touristischer Hektik ist aber nichts zu spüren. Nach den letzten Häusern von Rankwitz solle man links abbiegen, raten die Radfahrerinnen und nach etwa hundert Metern geht er dann auch schon los, der kurze Spazierweg hinauf zum Jungfernberg. Die höchste Erhebung des Lieper Winkels liegt direkt an der Hauptstraße, man kann sie aber trotzdem leicht verfehlen. Mit einer Höhe von 18,4 Metern ist der Jungfernberg nämlich weder Berg noch Hügel, sondern allenfalls eine winzige, kaum wahrnehmbare Erhebung. Trotzdem lohnt der „Gipfelsturm", denn von oben haben Spaziergänger einen überraschend weiten Blick über das Achterwasser. Und wen’s interessiert: Der Turm direkt gegenüber auf dem Festland gehört zur St. Johannis-Kirche von Lassan. Mit knapp 1.500 Einwohnern ist Lassan eine der kleinsten Städte Deutschlands und lohnt, sofern man auf Usedom genug gesehen hat, durchaus einen Ausflug.
Die Sage vom Wehklagen der sündigen Jungfrauen
Früher stand auf dem Jungfernberg sogar eine Mühle, die aber brannte, exponiert wie sie nun mal war, nach einem Blitzeinschlag ab. Seinen Namen erhielt das Hügelchen der Sage nach von ein paar Jungfrauen, die auf dem Weg zur Kirche in Liepe waren. Als sie oben am „Gipfel" standen, hörten sie die Glocken und dachten: „Jetzt, wo wir es sowieso nicht mehr rechtzeitig zum Gottesdienst schaffen, können wir gleich hier bleiben." Wäre das nicht schon schlimm genug, begannen sie, anstatt zu beten, zu tanzen. So viel sündiges Tun konnte natürlich nicht ungestraft bleiben, und so verschluckte der Erdboden die Frauen an Ort und Stelle. Noch immer liegen sie, das jedenfalls weiß die Sage, hier begraben. In manchen Nächten soll sogar ihr Wehklagen zu hören sein.
Wanderer, die es bis nach oben geschafft haben – der Aufstieg dauert nicht einmal fünf Minuten – können dort aber gefahrlos eine Rast einlegen. Für sie hat man neben dem Gipfelkreuz sogar eine Bank aufgestellt. Die Pause nutzen viele zum Eintrag in das Gipfelbuch, das in einem Briefkasten hinter der Rücklehne der Bank aufbewahrt wird. Hier können endlich auch weniger fitte Naturen ihren Erfolg als Berggeher schriftlich dokumentieren. Wer es wagt, sich Punkt Mitternacht ins Gipfelbuch einzutragen, hat bei den im Berg begrabenen Jungfern einen Wunsch frei.
Selbst für Usedomer Verhältnisse ist der Jungfernberg ein Zwerg, die höchste Erhebung der Insel, der Golm bei Kamminke, misst immerhin 69 Meter.
Die Kirche von Liepe, zu der die Jungfrauen nicht gehen wollten, ist durchaus ein lohnendes Ziel. Der 1216 erstmals erwähnte Bau ist das älteste Gotteshaus der Insel. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, dass die kleine turmlose Kirche, so wie sie heute dasteht, großteils vom Ende des 15. Jahrhunderts stammt. Nach der Besichtigung der mittelalterlichen Wandmalereien im Inneren sollte man noch über den ehemaligen Friedhof spazieren. Dort stehen nämlich, rund um die Kirche, Skulpturen von Künstlern aus Mecklenburg-Vorpommern. In Warthe, dem Ort im äußersten westlichen Winkel der Halbinsel, ist am Dorfplatz ein kleiner Fotostopp angesagt. Das Ferienhaus „Zum Alten Konsum" bietet die perfekte Kulisse für ein Erinnerungsselfie. Ein Foto von einem Ferienhaus? Ja, sicher – zumindest wenn das so liebevoll bemalt ist wie hier. Auf den ersten Blick sieht die Fassade tatsächlich aus wie eine Konsum-Verkaufsstelle in der DDR. Sogar eine blaue Schwalbe, das Kultmoped aus dem Osten, steht – aufgemalt – vor dem Laden.
Ein inselweit bekanntes Restaurant
Rankwitz, der Hauptort der Region, hat sogar sein eigenes Museum. Der „Heimathof Lieper Winkel" ist leicht zu finden. Er liegt in einem alten Schulhaus unmittelbar hinter dem Ortsschild. Dreimal in der Woche kann man hier einen kleinen Spaziergang durch die Geschichte des Lieper Winkels antreten. Das älteste Ausstellungsstück ist ein eigentlich unspektakulärer Faustkeil, der belegt, dass hier bereits unmittelbar nach Ende der letzten Eiszeit vor 8.000 Jahren Menschen lebten. Ansonsten wirft die Ausstellung einen Blick auf die Arbeitsbedingungen der Bauern und Fischer in der Region, unter anderem sind Landmaschinen, Fischereigerät und alte Handwerkszeuge ausgestellt. Wer nach „Bergbesteigung" und Museumsbesuch noch Energien übrighat, kann einen weiteren kleinen Spaziergang in Angriff nehmen. Von der Bungalowsiedlung in Quilitz führt ein Weg oberhalb des Strandes an einer kleinen Badestelle vorbei. Besonders am Abend, wenn sich die Sonne im Wasser spiegelt, ist das die perfekte Route für Romantiker. Genauso schön ist der Sonnenuntergang, ein paar Kilometer weiter, am Hafen von Rankwitz – zumindest in der Hauptsaison aber weniger einsam. Denn von den beiden Restaurants am Hafen ist eines inselweit für seine Fischgerichte bekannt und das andere für die Sundowner. Und die locken dann auch den einen oder anderen Feriengast aus den Badeorten am Meer hierher.