Die Aggression ist offenbar kein Urinstinkt, sondern hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte als Verhaltenskonzept herausgebildet.
Viele Jahrhunderte lang war es fast ausschließlich Philosophen und Theologen vorbehalten, sich Gedanken über den evolutionären Ursprung menschlicher Aggression und Gewalt zu machen. Dabei entwickelten sie eine Vielzahl von Theorien, die sich teils diametral widersprachen. Erst seit rund 150 Jahren begannen auch moderne Disziplinen wie Biologie, Medizin, Psychologie, Soziologie oder Verhaltensforschung die philosophisch-theologische Deutungshoheit infrage zu stellen. Wobei in jüngster Zeit wohl die spannendsten Beiträge aus dem Umfeld der Neurobiologie stammen. Der ist es letztendlich auch zu verdanken, dass die durch den Psychoanalyse-Urvater Sigmund Freud um 1920 begründete These von der Aggression als menschlichem Urinstinkt widerlegt werden konnte. Diese hatte der Verhaltensforscher und Medizin-Nobelpreisträger Konrad Lorenz unter anderem mit seinem Lehrbuch „Das sogenannte Böse" 1963 sogar noch verfestigte und zugespitzt.
Auf den Spuren des Naturforschers und Evolutionstheoretikers Charles Darwin geht die heutige Neurobiologie wie auch die Sozialpsychologie davon aus, dass es sich bei der Aggression um ein evolutionär entstandenes Verhaltenskonzept handelt. Bei ihm war keine Rede von einem menschlichen Aggressionstrieb gewesen, weil er die Aggression als ein reaktives Verhaltensprogramm verstanden und dem Menschen lediglich von Natur aus ein gewisses Potenzial an Gewalt zugestanden hat. „Das kann uns helfen, Schmerzen und andere Angriffe auf unsere körperliche Unversehrtheit abzuwehren", so der renommierte Neurowissenschaftler und Psychiater Prof. Joachim Bauer von der Abteilung für Psychosomatik der Universität Freiburg, der hierzulande eine der Koryphäen in Sachen Aggressionsforschung ist. Seine Erkenntnisse veröffentlichte er beispielsweise in seinem 2011 erschienen Werk „Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt". „Ihrer ursprünglichen Bestimmung nach", so Joachim Bauer in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ), „so meine Theorie, ist die Aggression ein soziales Regulativ im Dienste halbwegs guter zwischenmenschlicher Beziehungen." Wobei Bauer ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass man Aggression definitionsgemäß nicht allein auf rein physische Gewaltanwendung beschränken dürfe. „Die Schmerzzentren unseres Gehirns reagieren nämlich nicht nur auf physische Angriffe, sondern auch auf soziale Ausgrenzung und Demütigung. Daher rufen nicht nur körperliche Attacken beim Menschen Aggressionen hervor, sondern auch verweigerte soziale Akzeptanz."
Aggression als Regulativ
Unter den Großen der Philosophenzunft wie dem Engländer Thomas Hobbes (1588–1679) und dem Franzosen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) lautete die große Streitfrage, ob der Mensch von Natur aus aggressiv ist oder ob er erst durch Kultur und Zivilisation gewalttätig gemacht wurde. Wobei heute unstrittig ist, dass Männer deutlich aggressiver sind als Frauen. Dafür ist offenbar das Hormon Testosteron verantwortlich. Männliche Aggression äußert sich meist durch direkte Konfrontation bis hin zur Anwendung körperlicher Gewalt. „Demgegenüber bedienen sich Frauen vorzugsweise der ‚relationalen’ Aggression", so Joachim Bauer gegenüber der „NZZ". „Das heißt, sie schaden anderen, indem sie schlecht über diese reden und so deren Ruf zerstören."
Der niederländische Evolutionsbiologe Prof. Mark van Vugt von der Universität Amsterdam hat in seiner wissenschaftlich ziemlich umstrittenen sogenannten male warrior hypothesis 2012 die Meinung vertreten, dass Männer evolutionsbiologisch zur Aggression gegriffen haben, um sich durch Gewaltanwendung gegen Geschlechtsgenossen fremder Gruppen einen Vorteil im Zugang zu Sexualpartnerinnen, Ressourcen und Gebietsgewinnen sichern zu können.
Gegensätzliche Theorien
Ganz im Sinne von Thomas Hobbes ist dem Menschen laut Prof. Mark van Vugt Gewalt gleichsam evolutionär in die Wiege gelegt. Hobbes vertrat die Ansicht, dass Menschen schon von Geburt an bösartig und egoistisch sind. Ihr natürliches Aggressionspotenzial lasse sich erst durch kulturelle Regeln und soziale Einschränkungen zähmen. Gut 100 Jahre später postulierte Rousseau so ziemlich genau das Gegenteil. Ihm zufolge ist der Mensch von Natur aus ein „edler Wilder", der erst durch die Kultur gewissermaßen zu einer aggressiven Bestie gemacht werde. Beide Thesen konnten durchaus lange als Erklärungsansatz für die lange Tradition von Aggression und Gewalt in der Evolution des Menschen herhalten. Schließlich konnte durch paläoanthropologische Funde klar der Nachweis dafür erbracht werden, dass sich Menschen seit vorgeschichtlichen Epochen gegenseitig umgebracht hatten.
Auch Freuds und Lorenz’ Aggressions-Trieb-Theorie gilt inzwischen als überholt. Die Annahme von Instinkten, einem Trieb zum Hassen und Vernichten und einem Triebstau, der sich in aggressivem Verhalten lösen könne, wurde durch die Neurobiologie widerlegt. Entsprechende Vorarbeiten hatten schon Charles Darwin und der britische Bildungsforscher und Kinderpsychiater John Bolwby (1907–1990) gelegt, der vor allem die zwischenmenschlichen Bindungen als ein primäres Bedürfnis erkannt und einen Aggressionstrieb abgelehnt hatte. Die moderne Neurobiologie hat nachweisen können, dass die bei einem Trieb unabdingbare Freisetzung von Glücksbotenstoffen bei gesunden Menschen nicht stattfindet (nur Psychopathen bilden diesbezüglich eine Ausnahme). „Unprovozierte, spontane Aggression ist bei psychisch durchschnittlich gesunden Menschen keine Grundmotivation, kein Trieb und kein Instinkt", so Joachim Bauer. Basierend auf Erkenntnissen vor allem der amerikanischen Hirnforschung, die dafür die Bezeichnungen „social brain" oder „egalitarian brain" eingeführt hat, postuliert Joachim Bauer folgendes: „Menschen haben ein von Natur aus auf soziale Gemeinschaft und auf Gleichwertigkeit ausgerichtetes Gehirn."
Strittig ist seit Jahren das Thema, wie gewalttätig unsere Vorfahren waren und wie sich das Aggressionslevel über die Jahrtausende entwickelt hat. Wobei inzwischen entgegen der Theorie früherer Jahre nichts mehr dafür zu sprechen scheint, dass unsere evolutionären Ahnen gewaltbrünstige Monster waren. Professor Bauer geht davon aus, dass der Mensch sich im Laufe von Millionen von Jahren zu einem sozialen Wesen entwickelt hat, „Zusammenhalt und Intelligenz waren und sind das evolutionäre Prinzip des Menschen." Der These des US-Psychologen Steven Pinker, die dieser in seinem 2011 veröffentlichten Buch „Gewalt" postuliert hatte, wonach sich die Aggression im Laufe der jüngsten Menschheitsgeschichte linear zurückentwickelt habe, steht Bauer skeptisch gegenüber. Weil aus seiner Sicht die neolithische Revolution vor rund 12.000 Jahren mit dem Beginn des zivilisatorischen Prozesses, der ein Ende des Jäger- und Sammlerdaseins und den Start der Sesshaftwerdung und des Ackerbaus zur Folge hatte, einen totalen gesellschaftlichen Bruch und Schock ausgelöst hatte. Die Erfindung des Eigentums und der Erwerbsarbeit habe damals zu einer erheblichen sozialen Desintegration geführt, die ein bis dahin unbekanntes Aggressionspotenzial freigesetzt habe. Aus Bauers Sicht habe sich dieser Einschnitt in den Mythen des Nahen Ostens und später selbst in der Bibel in der Paradieslegende niedergeschlagen. „Meine These ist", so Bauer, „dass die Formulierung erster ‚expliziter Moralsysteme’ eine Reaktion des Menschen auf die massive Zunahme von Gewalt war, mit der der Mensch am Beginn der zivilisatorischen Epoche konfrontiert war." Wobei unter „expliziten Moralsystemen" religiöse Verpflichtungen oder Rechtssysteme zu verstehen sind.
Entwicklung in 50.000 Jahren untersucht
Auch eine grundlegende, im Jahr 2016 im Fachmagazin „Nature" veröffentlichte Studie der Universität von Granada unter Leitung von José Maria Gómez konnte den Nachweis erbringen, dass die Aggression im Laufe der Evolution keinesfalls kontinuierlich abgenommen hat. Und darüber hinaus konnte die Untersuchung belegen, dass der Mensch seine Gewaltbereitschaft letztendlich seinem evolutionären Erbe, besonders seinen direkten Vorfahren, den Primaten, verdankt. Belege für innerartliche Gewalt konnten die Forscher in der gesamten Gruppe der Säugetiere dokumentieren, wobei der Durchschnitt der Todesfälle durch Aggression mit vergleichsweise bescheidenen 0,3 Prozent berechnet werden konnte. Etwa ein Tier von 300 kam daher durch Gewalt seiner Artgenossen zu Tode. Innerhalb des Säugetier-Stammes nahm tödliche Gewalt dann zum Ursprung der Primaten hin immer weiter zu. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als die Primaten als eigenständige Linie im Stammbaum abgezweigt waren, betrug die Todesrate etwa zwei Prozent.
Wie verbreitet die Aggression in menschlichen Populationen war, wurde über einen Zeitraum von 50.000 Jahren Stammesgeschichte überprüft. Am Ursprung der Menschheit lag das Ausmaß innerartlicher Gewalt laut den Wissenschaftlern ebenfalls bei zwei Prozent, was allein wegen der Zugehörigkeit zu den Primaten nicht anders zu erwarten war. „Das bedeutet", so Gómez, „dass der Mensch seine Neigung zur Gewalt stammesgeschichtlich geerbt hat." Allerdings sei menschliche Aggression nicht allein als Veranlagungssache anzusehen, sondern „das Sozialverhalten und die Territorialität" so Gómez, „die wir mit unseren nächsten Verwandten teilen, haben ebenfalls dazu beigetragen." In der Zeit vor 3.000 bis 5.000 Jahren ist die Todesrate durch Gewalt dann dramatisch auf 15 bis 30 Prozent angestiegen, was laut den Forschern auf das Aufkommen von Stammesfürsten und größeren Gruppenverbänden zurückzuführen war, wodurch sich die Zahl der Kriege und Fehden erheblich erhöht habe. Erst in der Neuzeit, vor rund 100 Jahren, ist laut den Wissenschaftlern die Rate tödlicher Gewalt wieder stark zurückgegangen auf 0,1 Prozent. Ein Wert, der um das rund 200-Fache niedriger ist als bei unseren Vorfahren in der Steinzeit. Was letztendlich belege, dass der Mensch zwar gewalttätiger als die meisten anderen Säugetiere sei, aber dass dennoch der heutige Homo sapiens dank Kultur und gesellschaftlicher Entwicklung kein reines Produkt der Biologie und offenbar weniger brutal ist, als man es von ihm erwarten könnte. Daraus kann man in der Boxersprache einen Punktvorsprung für Hobbes ableiten, Rousseau ist aber noch keineswegs ganz ausgeknockt.