Der Psychiater Prof. Dr. Reinhard Haller ist einer der renommiertesten Gerichtsgutachter für Gewaltverbrecher. Im Interview spricht er über die schlimmsten Psychopathen, seine Erfahrungen mit dem Bösen und wie das seine Sicht auf die Menschen verändert hat.
Herr Haller, wie würden Sie das Böse im Menschen definieren?
Eine schwierige Frage. Jeder weiß ja im Prinzip, was damit gemeint ist. Nämlich das Verwerfliche, Verbrecherische, Kranke. Eine Definition gibt es eigentlich nicht. Für mich selbst ist es die Abwesenheit von Empathie. Wenn ein Mensch einem anderen etwas antut und dabei nichts empfindet, auch kein Mitleid.
In Ausnahmezuständen, wie zum Beispiel Kriegen, passiert es immer wieder, dass scheinbar normale Menschen sich grausam verhalten. Im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien war das zum Beispiel oft Thema. Gäbe es mehr Gewalt, wenn wir keine Gesetze hätten?
Das glaube ich schon. In der Psychologie wird darüber diskutiert, ob der Mensch als „universell kriminelles" Wesen auf die Welt kommt und dann durch die Erziehung und Umwelt zu einer sozial verträglichen Persönlichkeit herangeformt wird. Oder umgekehrt, er wird als unschuldiges Kind geboren und dann durch die äußeren Einflüsse ein böses Wesen. Ich glaube, dass jeder Mensch böse Anteile hat, die er aber in der Regel kompensieren, zurückhalten, auch zum Teil verdrängen kann. Aber unter bestimmten Bedingungen können sie durchbrechen. Das kann zum Beispiel bei ganz heftigen Affekten oder im Vollrausch passieren, oder wenn das Böse autorisiert ist, wie es zum Beispiel im jugoslawischen Bürgerkrieg war. Dann können plötzlich scheinbar ganz normale Menschen zu grausamen Sadisten werden. Um noch ein aktuelleres Beispiel zu nennen: Jugendgangs, die sonst vielleicht ganz harmlos sind, aber unter dem Einfluss der Gruppendynamik und von Alkohol plötzlich einen unschuldigen Passanten töten. Ich habe oft erlebt, dass wenn man solche Menschen untersucht, dann stellt man sich zunächst vor, dass das total abgekochte und brutale Schläger sind. Aber das Gegenteil ist oft der Fall. Das sind ganz harmlos wirkende, nette, umgängliche Menschen. Aber eben die Situation hat dem Bösen in ihnen Tür und Tor geöffnet.
Sie haben schon viele Täter untersucht. Wie hat das Ihre Sicht auf die Menschen verändert?
Ich bin an sich ein optimistischer, aber auch ein ängstlicher Mensch. Es hat meinen Optimismus etwas gedämpft. Ich glaube schon an das Gute im Menschen, aber diese Erfahrungen, dass das Böse sehr dominant ist und werden kann, das hat meine Ängstlichkeit schon etwas erhöht. Ich traue Menschen in negativer Hinsicht viel mehr zu, als ich es vorher getan habe.
Was war denn für Sie Ihr schlimmster Fall, wo war das schlimmste Böse?
Menschen, die nur böse waren, habe ich nie getroffen. Ich habe ungefähr 500 Menschen mit Tötungsdelikten, Mord, Totschlag untersucht. Und weit über 1.000 mit Sexualdelikten. Menschen, bei denen ich das Gefühl hatte, da ist nur das Böse vorhanden, habe ich eigentlich nie getroffen. Ich habe auch gute Seiten getroffen. Am ehesten ist das Böse dort, wo wir Psychiater vom malignen Narzissmus sprechen. Von der bösartigen Form des Narzissten. Diese gibt es bei ungefähr 0,2 Prozent aller Gewalttäter. Man findet den malignen Narzissten bei Serienkillern, aber auch bei politischen Despoten wie Stalin und Hitler. Die waren nicht geisteskrank, das waren bösartige Narzissten. Im Lauf von 35 Jahren Gutachtertätigkeit habe ich die Kriterien eines malignen Narzissmus vielleicht bei einem Dutzend der Gewalttäter finden können.
Was genau ist ein maligner Narzisst?
Bei ihnen ist ein hohes Maß an Sadismus vorhanden, und es herrscht ein völliger Mangel an Empathie. Sie sind schwere Narzissten, nicht wie andere Menschen, die auch ein bisschen narzisstisch sind, sondern sie sind es auf Kosten anderer. Sie müssen andere Menschen entwerten und niederdrücken, damit sie selbst in ihrer Jämmerlichkeit noch toll da stehen. Sie sind dissozial, haben alle eine delinquente Karriere hinter sich und sind hochgradig paranoid. Das heißt, sie sind extrem misstrauisch. Das macht sie so gefährlich, weil sie ihre Taten gut planen, völlig emotionslos mit hohem Sadismus.
Wie wird ein Mensch so?
Nach außen hin sind sie nicht einfach zu erkennen. Wir sprechen in der Psychiatrie auch vom „Charme des Psychopathen". Diese Menschen sind durchaus auch charmant und können andere für sich einnehmen. Warum sonst haben die großen Despoten diese Begeisterung ausgelöst? Es gibt ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Vor allem zwei besondere Risikofaktoren: Zum einen, wenn ein Mensch in der Kindheit von seiner Mutter keine Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit bekommt. Dann wird er immer danach streben und mit aller Gewalt in seinem Leben einfordern, dass er geliebt und anerkannt wird. Andererseits wird er selbst aber diese emotionale Kompetenz nicht entwickeln können. Die berühmte böse Mutter, der abwesende und gewalttätige Vater. Der zweite Risikofaktor ist das genaue Gegenteil: Wenn man Menschen in der Kindheit allzu sehr verwöhnt hat. Überschüttet hat mit Zuwendung, Lob, Anerkennung, was gar nicht echt war, dann wird ein Mensch nie genug davon bekommen können und später im Leben in seinen Beziehungen immer einfordern. Wobei der erstere mit der völligen Unterversorgung der größere Risikofaktor ist. Diese Dinge kann man allerdings nicht eindimensional erklären. Es kann auch in der Persönlichkeitsstruktur Mängel geben. Man weiß, dass es genetische Einflüsse auf die Emotionsregulation gibt. Wenn das dann noch dazu kommt und noch eine ungünstige Lebensgeschichte, falscher Umgang zum Beispiel, das berühmte Abgleiten in kriminelle Milieus, dann kann es in seltenen Fällen zu diesen Konstellationen kommen.
Sind diese Menschen therapierbar?
Persönlichkeitsstörungen sind schwer therapierbar. Die gehören zum Menschen wie seine Körpergröße. Das sind keine Krankheiten, sondern extrem ausgeprägte Eigenschaften. In der Therapie kann man nur erreichen, dass die Betroffenen damit einigermaßen zurechtkommen, sozial anders damit umgehen. Sie können eventuell lernen, ihrer Störung das sozial Schädliche zu nehmen. Aber beim malignen Narzissten geht man davon aus, dass es keine Therapie gibt. Das sind Menschen, vor denen man die Gesellschaft schützen muss, sie so lange in Anstalten unterbringt, bis sie nicht mehr gefährlich sind. Das ist in der Regel erst im Greisenalter.
Warum sind es meistens Männer?
Frauen fehlt in der Regel das Sadistische. Nicht nur die Sozialisation ist eine andere, auch die hormonelle Ausstattung ist anders. Sie haben nicht mit so vielen aggressiven Hormonen zu kämpfen wie Männer und andere genetische Voraussetzungen, das Gehirn ist nicht dasselbe. Frauen sind auch weniger narzisstisch, beziehungsweise wird der Narzissmus anders ausgelebt. Männer hingegen leben ihn häufig extrem aggressiv aus.
Kommen wir mal zu etwas Positivem. Sie haben mal vom angeborenen Moralinstinkt gesprochen. Was genau ist das?
Es wird vermutet, dass es in jedem Menschen einen Moralinstinkt gibt, die Gehirnforscher spekulieren darüber, dass er im Gehirn verankert sein könnte. Ausgangspunkt sind Beobachtungen, dass es manche Verhaltensweisen und Richtlinien in allen Völkern und Kulturen gibt, auch wenn sie noch so primitiv und abgekapselt sind. In allen Kulturen gilt Tötung, Diebstahl und Vergewaltigung als verwerflich und strafbar. Das ist in den Menschen irgendwie drin. Ob dieser Moralinstinkt organisch festgelegt ist, ist noch nicht bewiesen.
Wenn das Böse in jedem Menschen vorhanden ist, kann dann auch jeder Mensch zum Mörder werden?
Wenn man das Wort Mord als einen moralischen Begriff nimmt, der mit bösem Willen zu tun hat, dann glaube ich nicht, dass jeder Mensch ein Mörder werden kann. Wenn es aber darum geht, dass jeder Mensch zum Töter werden kann, das glaube ich schon. Wenn zum Beispiel eine Mutter in eine Notsituation kommt, in der ihr Kind bedroht ist. Oder ein Mensch kommt überhaupt in eine Notwehrsituation, oder jemand hat einen Vollrausch, oder die Affekte kochen über bei einem Streit ... Dann, glaube ich, kann jeder Mensch einen anderen töten.