Spielplatzgeräusche, die eine Symphonie aus Blautönen erzeugen, das Zünden eines Autos als graue Fischschuppen mit gelb-weißen Rändern erkennen – was klingt wie die Beschreibung eines Trips, ist für Synästhetiker ein Alltagserlebnis, ganz ohne Rausch. Woher kommen diese speziellen Verknüpfungen von Sinneseindrücken?
Betreten Synästhetiker einen bunten Herbstwald, hören sie eine Symphonie, die anderen verborgen bleibt. Die unterschiedlichen Lautstärken stellen sich in Helligkeit und Kontrast des jeweiligen Bildes dar. Für Menschen, denen diese Verknüpfung von Sinneseindrücken fehlt, muss die Vorstellung von klingenden Wäldern wie eine Erlebnisgeschichte unter Drogen vorkommen. Doch Synästhetiker kennen keine andere Welt als jene, die sie durch ihre Augen sehen, riechen und fühlen. Sie sind auch nicht berauscht von den Farb-Klang-Kombinationen, es ist für sie der Normalzustand. Es sind nicht nur Farbeindrücke, die Geräusche im Gehirn von Synästhetikern entstehen lassen – es geht auch um Klänge, die eine raue oder glatte Oberfläche von Formen bei den Zuhörenden hervorrufen. Kurz gefasst: Gefühle bekommen einen Geschmack und Töne eine Form, samt Textur.
Das Entdecken der Fähigkeit wird im Umgang mit den „Normal-Sehenden", oft in der Schule, nicht selten vor der Klasse augenfällig. Wenn eine Aufgabe in Rot an der Tafel steht, aber als solche nicht erkannt wird, kommt es für die betroffene Person zu peinlichen Momenten. Mit der Aufklärung über das Phänomen wird das Begreifen um die Gabe als Non-Anomalie größer, doch wegen seiner Seltenheit kommt das Umfeld meistens erst auf die Alltagsdiagnose „Farbenblind" oder zieht andere unqualifizierte Rückschlüsse.
Eine seltene Gabe
1866 prägte der französische Physiologe und Neurologe Alfred Vulpian den Begriff „Synästhesie". Er kommt aus dem Alt-Griechischen und bedeutet so viel wie „mitempfinden" oder „zugleich wahrnehmen". Rund vier Prozent der Menschheit besitzt nach Angaben der University of Edinburgh die Gabe. Die frühesten schriftlichen Zeugnisse über dieses Phänomen datieren zurück auf das ausklingende 17. Jahrhundert.
Der Philosoph Martin Schmieder, Vorstandsmitglied der Deutschen Synästhesie Gesellschaft, sagt, es sei gar nicht leicht, den Nicht-Synästhetikern beizubringen, wie komplex sich die Sinneswahrnehmung eines Synästhetikers anfühlt. Ganz einfach ausgedrückt: Ein Sinn wird durch einen äußeren Reiz stimuliert. Parallel wird eine andere Sinneswahrnehmung angeregt, die gewöhnlich nicht mit dem eigentlichen Reiz zusammenhängt. Franz Liszt etwa wies sein Weimarer Orchester 1942 an, „etwas blauer" zu spielen. Die Musiker im Orchestergraben hatten da wohl einen schweren Stand gehabt, wie sollten sie die Anweisungen des Meisters nachvollziehen können?
Beim Harmonic Coloring geht es um die Vereinheitlichung von Klangfarben durch feste Zuschreibung von harmonischen zu farblichen Elementen. Synästhetiker sehen die Farben von Tönen im Gegensatz dazu unterschiedlich.
Individuell konsistent, kollektiv divers
Das Erstaunliche ist: Jede Synästhesie ist individuell, und somit hätte Liszt niemals darauf vertrauen können, dass, selbst bei anders farbig empfindenden Musikern, der gewünschte Klang entstanden wäre. Man stelle sich vor, das Gegenüber redet von dem gleichen blauen Himmel, den man selbst als solchen erkennt. Wie einheitlich „blau" empfunden wird, wissen wir nicht, es ist aber davon auszugehen, dass kein anderer Mensch von „grün" spricht, wenn „blau" gemeint ist. Diese Übereinstimmung ist den individuellen Farbwahrnehmungen von Synästhetikern nicht zu eigen. Das heißt: Für den einen Synästhetiker ist ein D-Dur-Akkord immer das gleiche Rosa. Für andere immer das gleiche Zitronengelb.
Diese Konsistenz entwickelt sich erst im jugendlichen Alter, und nur dann, wenn die Synästhesie gelebt und nicht unterdrückt wird. Im Alter von sieben bis acht Jahren sind nur 48 Prozent der Verknüpfungen konstant, davor noch weniger. Insgesamt gibt es 80 verschiedene Formen von Synästhesie, die bekannteste darunter ist die Graphem-Farb-Synästhesie, wobei Buchstaben oder Zahlen mit einem Farbeindruck verbunden werden. Sie tritt bei ein bis zwei Prozent der Bevölkerung auf. Andere Formen verbinden Emotionen mit Gerüchen, Bewegung mit einem Geräusch, Schmerz mit einem Temperaturempfinden. Manchmal gibt es mehrere gleichzeitig auftretende Formen der Synästhesie. Wie erklären sich also die Entstehung und Ausprägung des Phänomens?
Unklare Ursachen, unterschiedliche Erklärungsmodelle
Die Genetik scheint bei der Entstehung von Synästhesie eine Rolle zu spielen. Doch wie die besondere Wahrnehmungsgabe im Gehirn entsteht, ist bis heute noch nicht vollständig geklärt. Auch über die Einheitlichkeit des Ursprungs wird in der Wissenschaft gestritten. Eine Hypothese sagt, dass die Ausprägung der Gabe sich nach den Umwelteinflüssen richte, nach kulturellen Begebenheiten, Vorlieben oder Interessen der betreffenden Person.
Darüber hinaus debattiert man, ob das Verknüpfen von Sinnesreizen eher Ergebnis einer neurologischen Überreaktion ist, oder auf einem Funktionsgewinn beruht. Der Psychologe Roi Cohen Kadosh und sein Team fanden heraus, dass man alleine mit Hypnose Synästhesieeffekte erzeugen kann. Suggerierte man den hypnotisierten Probanden, dass beispielsweise die Zahl Sieben rot sei, brauchten sie deutlich länger, um eine schwarze Sieben auf einem rotem Hintergrund zu erkennen.
Durch Hypnose erzeugte Lockerung von Hemmungen bewirkt eine Kommunikation der ansonsten getrennt voneinander arbeitenden Hirnareale.
Synästhesieeffekte durch Hypnose
Wissenschaftler gehen davon aus, dass Hypnose Hemmprozesse im Gehirn lockern kann. Und hier vermuten Cohen Kadosh und seine Kollegen auch den Schlüssel zur Synästhesie: Die durch Hypnose erzeugte Lockerung von Hemmungen bewirkt eine Kommunikation der ansonsten getrennt voneinander arbeitenden Hirnareale. Befeuert wird diese Theorie auch durch Kadosh’s Gleichstromstimulation, mit der er Synästhesieeffekte mit Stromstärke steuern konnte. Die durch den Gleichstrom lokal veränderte Erregbarkeit von Neuronen und die damit verbundene Beeinflussung der Neurotransmitter erzeugen die unterschiedlich starken Synästhesieeffekte.
Anatomische Unterschiede im Gehirn weisen allerdings darauf hin, dass Synästhesie nicht alleine auf veränderter Erregbarkeit beruht. Vilayanur Ramachandran von der University of California in San Diego formulierte im Jahr 2005 seine Hypothese von der sogenannten „Hyperconnection". Es gibt demnach Menschen mit überdurchschnittlich ausgeprägten Verbindungen der Hirnareale, die für die entsprechenden Reize zuständig sind. Gleichzeitig bekommen sie den Befehl, eng zusammenzuarbeiten. Ramachandran spricht vom „Hyperbinding". Die beteiligten Hirnareale sind zudem auch stärker ausgeprägt, wie der Kölner Forscher Peter Weiss-Blankenhorn und seine Kollegen entdeckten. Das betrifft jedoch nicht nur das Zentrum Farbverarbeitung. Auch im linken Scheitellappen fanden sie graue Hirnsubstanz. Dieser Bereich ist unter anderem dafür zuständig, verschiedene Sinneseindrücke zu einem Gesamtbild zu verknüpfen.
Mehr „Knotenpunkte", mehr los im Oberstübchen
Das Züricher Forscherteam um Lutz Jäncke nutzte 2011 anatomische Daten und mathematische Methoden, um Karten für neuroanatomische Netzwerke im Gehirn ihrer Probanden zu erstellen. Dabei fanden sie heraus, dass die Denkorgane von Synästhetikern stärker vernetzt sind als die von Kontrollpersonen. Insbesondere besitzen sie mehr Knotenpunkte, die verschiedene Areale miteinander verknüpfen. Wenn man es auf ein Verkehrsnetz umlegt, haben Synästhetiker mehr Flughäfen zum Anfliegen als Nicht-Synästhetiker. Das Mehr an Knotenpunkten ist über das gesamte Denkorgan verteilt. Für Jäncke bedeutet dies, dass allen Synästhesieformen dieselbe Ursache zugrunde liegt, nämlich die überdurchschnittliche Beschäftigung mit einer bestimmten Materie. Demnach führte die intensive Auseinandersetzung mit Musik bei Liszt dazu, dass er Melodiebögen als blau empfand. Grundsätzlich muss man aber unterscheiden zwischen Projektionen und Assoziationen. Assoziationen hat jeder Mensch, man kann sie auch sehr gut lernen. Projektionen sind nach der Meinung der Züricher Forscher anatomisch bedingt, es findet eine Hyperkonnektivität im Gehirn statt, was bedeutet, dass die Assoziationen rückgekoppelt werden. Wenn man also zum Beispiel bei der Zahl Sieben eine grüne Farbe assoziiert, würde man bei der Farbe Grün auch die Zahl Sieben assoziieren.
Allgemein haben Synästhetiker sicherlich eine lebhaftere Fantasie und üben häufig kreative Berufe aus. Einen Konflikt mit der Umwelt gibt es nur dann, wenn das Vorgestellte nicht der Wirklichkeit entspricht. Diesen Zustand kennen Begabte nur allzu gut.