Seit Wochen kommt es beim Lieferdienst Gorillas immer wieder zu Protestaktionen. Die Mitarbeiter klagen über kaputte Fahrräder, fehlende Regenkleidung, verspätete Entlohnung. Die Probleme des Start-up-Unternehmens stehen stellvertretend für viele dieser Unternehmen.
Leihfahrrad Nummer 27 knarzt und ächzt. 14 Sekunden lang. Lang genug, dass es einem schon fast in den Ohren schmerzt. Dann endet das Kurzvideo, und man weiß: Auf diesen Drahtesel würde man nicht so gern steigen. Nicht für einen Sonntagsausflug. Nicht, um mal eben schnell zum Job oder zu den Liebsten zu kommen. Und erst recht nicht, wenn jenes Zweirad das Arbeitsmittel ist und top funktionieren sollte. Doch die Realität sieht anders aus. „Das ist das topgewartete Rad mit dem ich gestern bei Gorillas ausliefern musste, weil es keine funktionierenden Ersatzräder mehr gab", schreibt ein Gorillas-Fahrer, der sich „KulturmarxistHD" nennt, auf Twitter. Er hat das Kurzvideo hochgeladen „Wenigstens waren diesmal die Bremsen richtig eingestellt." Kein Einzelfall, wie man einem anderen Tweet entnehmen kann: „Ein Mangel an Fahrrädern im Stützpunkt Jannnowitzbrücke habe dazu geführt, dass einige Arbeiter gezwungen waren, dringend reparaturbedürftige Fahrräder zu nutzen und sich selbst in Gefahr brachten", schreibt jemand vom Gorillas Workers Collective. Und: „Im Bergmannkiez landeten innerhalb von vier Stunden zwei Fahrer mit fahrradinduzierten Verletzungen im Krankenhaus." Das Gorillas Workers Collective ist ein Zusammenschluss der Mitarbeiter bei Gorillas.
Gorillas ist ein Lieferdienst, der Bestellungen von Artikeln, wie es sie in jedem Supermarkt gibt, annimmt und in zehn Minuten liefert. Der Slogan: „Schneller als du". Es gibt keinen Mindestbestellwert, allerdings verlangt der Lieferdienst eine Gebühr von 1,80 Euro. Die Fahrer arbeiten in drei Schichten und verdienen 10,50 Euro die Stunde. Anders als andere Anbieter liefert der Versand nicht aus Supermärkten, sondern aus angemieteten, über die ganze Stadt verteilten Lagerräumen. Spätestens in der Corona-Pandemie hat sich ein Wettbewerb mit den bereits etablierten Anbietern wie Rewes Lieferservice und Edekas Bringdienst angeheizt. Vor allem das Berliner Start-up Gorillas erlebte in der Pandemie einen Boom. „Wir brauchten noch einen Becher saure Sahne für unser Abendessen und waren zu faul, dafür noch einkaufen zu gehen", erzählt ein Freund sein Erlebnis mit dem Schnell-Lieferservice. „Da habe ich dann zum ersten Mal bei Gorillas bestellt. Und die Sahne kam tatsächlich in sieben Minuten."
„Zu wenig für Arbeitssicherheit getan"
Angesprochen auf die Twitter-Meldungen reagiert eine externe PR-Agentur, die für Gorillas arbeitet: „Im Falle von Defekten werden die Räder selbstverständlich, für die Rider kostenfrei, ausgetauscht", hieß es da. „Bei der Auswahl der E-Bike-Lieferanten achten wir auf Qualität und Sicherheit." Und: „Die Verwendung von kaputten Fahrrädern ist verboten". Das war noch am Tag vor den mutmaßlichen Unfällen. Aber was sollen die Kurierfahrer machen, wenn ihnen nicht genügend verkehrssichere Zweiräder zur Verfügung stehen? Leider blieb eine Antwort auf diese Frage offen.
Kritik kommt indes nicht nur von den Kurierfahrern. „Es wird zu wenig für Arbeitssicherheit getan", sagt Sylvia Bayram von der Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht (BAGA) (vgl. Interview). „Die Arbeitnehmer sind total rechtlos." Die angehende Juristin beobachtet die Protestaktionen bei Gorillas schon seit längerem und hat mit einigen Betroffenen gesprochen. Mit ihrer Kritik steht die Berliner Ex-Personalrätin nicht allein da.
Auch die Fachanwältin für Arbeitsrecht Antje Burmester weiß um mehrere Mängel, die neben Gorillas die gesamte Lieferbranche betreffen. „Die Arbeitsbedingungen sind durch Bezahlung knapp über dem Mindestlohn eher prekär. Häufig arbeiten die Kuriere in 450 Euro-Jobs oder in befristeten Arbeitsverhältnissen", kritisiert sie. „Auch können sie durch das Smartphone permanent überwacht werden und müssen vielfach auf eigene Arbeitsmittel zurückgreifen." Immerhin hat das Landesarbeitsgericht Frankfurt die Rechte der Fahrradkuriere in einem aktuellen Urteil gestärkt. Zwei Kurierfahrer hatten ihren Arbeitgeber, den Lieferdienst Lieferando, verklagt. Und Recht bekommen. „Danach muss der Arbeitgeber seinen Mitarbeitern ein Fahrrad, ein Smartphone und das notwendige Datenvolumen auf seine Kosten zur Verfügung stellen", erläutert die Kölner Juristin das Urteil. Das Urteil sei noch nicht rechtskräftig, weil der betroffene Arbeitgeber dagegen noch Revision beim Bundesarbeitsgericht einlegen könne. „Trotzdem dürfte das Urteil schon jetzt eine starke Wirkung haben."
Das Misstrauen scheint tief zu sitzen
Die Geschäftsleitung bei Gorillas scheint schon reagiert zu haben „Wir entschädigen unsere Fahrer für die Nutzung ihres privaten Telefons gemäß ihrem Arbeitsvertrag", sagt ein Sprecher. Das seien beispielsweise 15 Euro pro Monat für Vollzeitfahrer und 7,50 Euro für Teilzeitfahrer. Auch würden die Fahrer kostenlos mit kraftsparenden E-Fahrrädern (Pedelecs) sowie mit Helmen, Taschen und einer Regenuniform ausgestattet. Möglicherweise ist dieses Umlenken auch eine Reaktion auf die anhaltenden Protestaktionen.
Nicht nur beim Geschäftsmodell ist Blitzgeschwindigkeit angesagt – auch in Sachen Wachstum legt Gorillas ein enormes Tempo vor. Innerhalb weniger Monate sicherte sich das erst im Mai 2020 gegründete Start-up-Unternehmen 244 Millionen Euro durch seine Investoren. Damit erreichte Mitbegründer Kagan Sümer den sogenannten Unicorn-Status – eine Marktbewertung so schnell wie kein Start-up in Deutschland zuvor. Allerdings steht das erfolgreiche Unternehmen auch in heftiger Konkurrenz zu Flink. Jetzt haben auch Delivery Hero und Lieferando ihren Einstieg ins Geschäft der schnellen Lieferung angekündigt.
Unterdessen bleibt die Unzufriedenheit des Gorillas Workers Collective. Trotz Gesprächen mit der Geschäftsführung scheint ihr Misstrauen tief zu sitzen. Ihre Protestaktionen könnten sie ihre Jobs kosten, denn die zeitweisen Arbeitsniederlegungen gelten als sogenannte „wilde" Streiks. „Da ist die deutsche Rechtsprechung ganz eindeutig und stuft solche Aktionen als rechtswidrig ein", gibt die Arbeitsrechtlerin Antje Burmester zu bedenken. Für einen legalen Streik müssten die Gorillas-Mitarbeiter gewerkschaftlich organisiert sein.
„Doch die Protestaktionen des Gorillas Workers Collective scheinen eher Spontanaktionen zu sein. Es ist damit schwierig, ihre Struktur mit der einer Gewerkschaft zu vergleichen", so die Juristin. Auch sei die Anzahl der organisierten Mitglieder nicht hoch genug, um arbeitsrechtlich als tariffähig zu gelten. „Unter Beachtung des Versammlungsrechts können sie jederzeit Protestaktionen realisieren, die außerhalb ihrer Arbeitszeiten liegen", sagt sie. Doch wie in und in welcher Form es mit dem Gorillas Workers Collective weitergeht, bleibt abzuwarten.