Wie reagiert ein Mensch in Extremsituationen? Wieviel Stress verträgt der Körper, wieviel kann die Psyche wegstecken? Menschen im Weltraum – das ist der bevorzugte Forschungsgegenstand des Zentrums für Weltraummedizin Berlin (ZWMB) an der Charité. Auch Matthias Maurer wird, wenn er in der ISS ist, für das Zentrum Experimente durchführen.
In Zeiten, in denen der Tesla-Gründer Elon Musk davon fantasiert, Hotels im Weltraum zu bauen und bis zu 100 Passagiere in einem SpaceX-Schiff als Touristen ins All zu schießen, scheinen Flug und Aufenthalt auf der bewährten Internationalen Raumstation (ISS) bereits Routine zu sein. Doch gerade am Beispiel unseres neuen Mannes im All, Matthias Maurer, zeigt sich, dass so ein Aufenthalt in der Schwerelosigkeit alles andere als ein Spaziergang ist. Der Körper ist ungewöhnlichen Belastungen ausgesetzt, es braucht ein ausgefeiltes Training, um dagegen anzukämpfen.
Denn fast alle Organsysteme sind betroffen, Herz und Gefäße, Muskeln und Knochen, das Gleichgewichtsorgan im Ohr, der Stoffwechsel. So scheiden Raumfahrer während der ersten Stunden in Schwerelosigkeit bis zu 1,5 Liter Urin aus, der Hämatokrit steigt, das heißt das Blut verdickt sich. Die fehlende Schwerkraft bewirkt, dass die Venen nicht mehr richtig arbeiten und sich das Blut aus den Beinen im Oberkörper verteilt. Die Astronauten bekommen ein aufgedunsenes Gesicht („Puffy face") und schlanke Beine („Bird legs"). Die Bandscheiben dehnen sich aus, der Körper wird im Durchschnitt fünf Zentimeter länger und bei vielen Raumfahrern setzen Rückenschmerzen ein.
Astronauten wachsen fünf Zentimeter
Damit der Körper das alles übersteht, muss ein Astronaut nicht nur genau wissen, wie er seine Muskeln trainieren muss, er sollte auch über die körperlichen Vorgänge Bescheid wissen. Das lernt er zum Beispiel im Zentrum für Weltraummedizin (ZWMB) an der Charité in Berlin, das von Professor Hanns-Christian Gunga geleitet wird. Die Weltraummediziner untersuchen die körperlichen Vorgänge, denen Menschen im All ausgesetzt sind, bis ins Detail und denken über Gegenmittel nach. Ein Beispiel? Prof. Gunga nennt die Coolpacks: Astronauten werden in einer Zentrifuge Belastungen ausgesetzt, die bis zum vier- oder fünffachen der Erdanziehungskraft gehen können. „So eine Zentrifuge steht in Köln", sagt Gunga. „Wir haben die Beine und Arme der Probanden mit Coolpacks umwickelt, um das Blut, das in die Peripherie gepresst herunterzukühlen. Das war erfolgreich – die Technik könnte künftig in Raumanzüge eingebaut werden."
Ein anderes Messinstrument, das die Charité-Mediziner entwickelt haben, ist ein Band, das wie ein Tennisschwitzband aussieht und um den Kopf herum getragen wird. „Es misst über 36 Stunden hinweg die Kopf-, und damit die Gehirntemperatur. Wenn die zu hoch ist, und das kann auch nur ein Grad sein, wird es für den Astronauten gefährlich. Es droht Überhitzung", erläutert Gunga. Ganz allgemein ist bei Astronauten die Körpertemperatur leicht erhöht – warum, das wissen die Mediziner nicht genau.
Sei Kollege am ZWMB, Professor Dieter Blottner, hat ein spezielles Muskelmessgerät entwickelt. Mit dem Gerät, das Maurer mit an Bord nimmt, könne der Astronaut selbst zum ersten Mal Muskelveränderungen im Weltall messen, berichtet er dem „Tagesspiegel". Das grüne Messgerät ist so groß wie ein Smartphone, nur etwas dicker. Blottner ist überzeugt, dass sein Muskelmessgerät bald in ganz normalen Kliniken eingesetzt werden wird. „Wir können nun zum ersten Mal Messungen von völlig entlasteter Muskulatur durchführen. Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie Weltraummedizin auf der Erde verwendet werden kann", sagte Blottner dem „Tagesspiegel". Wer schon mal mit Knochenbrüchen oder anderen schweren Verletzungen oder Krankheiten länger im Bett liegen musste, weiß, wie schnell einzelne Muskeln sichtbar dünner werden. Das Gerät zeigt, worauf es in der Weltraummedizin ankommt. Derzeit wird viel Geld investiert, um handliche und leichte Messinstrumente für Ultraschall, EKG, Überwachung oder Erste Hilfe zur Verfügung zu haben. Mobile Medizinprodukte haben auch in der klinischen Medizin großen Wert – nicht nur in der Notfall- und Expeditionsmedizin, sondern auch wenn man an die Allgemeinmedizin auf dem Land denkt.
Auch andere Erkenntnisse der Weltraummediziner haben ihren Weg zum irdischen Einsatz gefunden. So bieten immer mehr Fitnessstudios Geräte mit Vibrationsplatten. Auch in der Charité wurde deren Wirkung getestet und festgestellt, dass sie Muskelschwund aufhalten können. Ein Kontraktionszyklus von drei Minuten entspreche einem 400-Meter-Lauf, so der Muskelspezialist.
Auf der Erde den Weltraum erforschen
Ein wesentlicher Teil der weltraummedizinischen Forschung findet nach wie vor auf der Erde statt. Denn die Zahl der Weltraumfahrer, an denen Versuche durchgeführt werden können, ist verhältnismäßig klein und der Zeitrahmen begrenzt. Für die Forschung auf der Erde werden Szenarien entwickelt, die die Umgebung im All simulieren – beispielsweise bei Parabelflügen oder im Rahmen von Isolations- und Bettruhestudien. So führen die Esa und die Nasa zusammen eine große Bettruhestudie durch, bei der 24 gesunde Probanden mit Sechs-Grad-Kopftieflage einen Raumflug simulieren. Während der 60-tägigen Bettruhephase dürfen die Probanden im Forschungszentrum „Envihab" beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln zu keinem Zeitpunkt aufstehen. Die Forschungsergebnisse kann man zum Beispiel direkt auf ältere Patienten übertragen und in der Rehabilitation einzusetzen.
Unter den Technologieexperimente ist auch das mit Künstlicher Intelligenz ausgestattete CIMON-2-Computersystem. Es soll Matthias Maurer während seiner Mission entlasten. Das ballförmige, frei fliegende Gerät reagiert auf Sprachsteuerung, soll irgendwann auch einmal emotional antworten können und dem Astronauten so etwas wie ein Assistent werden. Das Beispiel zeigt, dass es bei einer Weltraummission ganz entscheidend darauf ankommt, wie Stress, Belastungen und das enge Zusammenleben psychologisch gemeistert werden. Auch das wird im Charité-Team untersucht. Probanden leben zum Beispiel in der Antarktis monatelang von der Außenwelt abgeschnitten zusammen. „Dabei werden sie beobachtet – wie lange ist wer mit wem zusammen? Welche Räume benutzen sie? Wie verhalten sie sich bei Meetings oder ganz normal beim Abendessen", erläutert Gunga. „Aus solchen Isolationsstudien lassen sich psychologische Muster erkennen, die uns zeigen, wer für eine Weltraummission geeignet ist und wer nicht." Die Mediziner haben herausgefunden, dass unter Menschen in körperlich gleich guter Verfassung die einen Belastungen extremer Art besser aushalten als andere. „Das liegt an einem bestimmten Hormon", sagt Gunga, „wer eine solche Disposition hat, kommt natürlich als Astronaut in die engere Auswahl." Matthias Maurer muss wohl so ein ähnliches Hormon, das ihm die nötige Resilienz gibt, in sich tragen. Unter anderem deswegen hat er es geschafft.