Es war ein furioser Start, Annalena Baerbock gefühlt fast im Kanzleramt. Doch die Regierungszentrale rückt gefühlt inzwischen immer weiter weg.
Die böse Überraschung kam für die grüne Kanzlerkandidatin in einer Talkshow Mitte Juni. Nach dem Hin und Her über die Darstellung ihres Lebenslaufs musste sich Annalena Baerbock noch die Frage gefallen lassen, ob nicht ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck sie in ihrer Funktion ablösen sollte, ob nicht er der bessere Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl wäre.
Eines spiegelt unmissverständlich die Frage wider, irgendwas läuft beim Grünen-Wahlkampf grundsätzlich schief, wenn keine acht Wochen nach der Nominierung und neun Wochen vor der Wahl eine solche Frage ernsthaft gestellt wird. Und das nicht nur in einer Talkshow.
Für Annalena Baerbock sollte die Kanzlerkandidatur Stück für Stück zu einem Abwehrkampf werden. Ihr Buch, als programmatischer Beitrag gedacht, geriet fast zum Bumerang. Das Werk wurde durch unverzeihliche Nachlässigkeiten zu einem Hindernis. Nachdem Baerbock es selbst bei der Vorstellung noch als Sachbuch klassifiziert hatte, musste die 40-Jährige ihr Werk selbst als Bestandsaufnahme zurückstufen. Viele hätten mit ihren „Ideen zu einer besseren Welt" beigetragen und an dem Buch mitgearbeitet musste Baerbock einräumen. Im Klartext: Das ganze Buch wurde von einem Autor kreiert, der Erfahrung mit derartigen Buchprojekten prominenter Politiker hat. Dieser hatte dann wiederum Autoren angeheuert, die die einzelnen Kapitel in Rekordzeit zusammenschrieben. In dem vermeintlichen Machwerk von Annalena Baerbock wurde per „Copy and Paste" ziemlich ungeniert hingelangt. Da wurde buchstäblich wörtlich abgeschrieben, so dass professionelle Plagiatsjäger keine Stunde brauchten, um entsprechende Stellen in dem Buch in ihren Ursprungswerken wiederzufinden. Der wahlkämpferische Flurschaden für die Grüne Kanzlerkandidatin immens. In der zweiten Auflage sollen nun alle beteiligten Autoren explizit genannt werden. Ob das Buch dann noch jemand kauft, darf bezweifelt werden.
Jedes Detail von Spitzenkandidaten auf dem Prüfstand
Eines hat das Werk allerdings bewirkt, die Debatte, ob Annalena Baerbock tatsächlich die richtige Spitzenkandidatin ist, wurde noch einmal beflügelt. Vor allem aus der Bundestagsfraktion der Grünen kommt intern massive Kritik.
Das „verunglückte" Buch ist das eine, die zu späte gemeldeten Einkünfte an die Bundestagsverwaltung das andere. Doch der kapitale Fehler mit dem erheblich aufgehübschte Lebenslauf hätte vermieden werden können. „Weniger wäre da Mehr gewesen", bringt es eine Direktkandidatin aus dem Bundestag auf den Punkt. Spätestens in der ersten Juliwoche erreichte die Debatte um das vergangene Wirken der Grünen-Kanzlerkandidatin die kritische Zone. Innenminister Horst Seehofer nahm Annalena Baerbock väterlich in Schutz. Der ehemalige CSU-Vorsitzende zeigt Mitleid mit der Wahlkämpferin. Damit nicht genug, der grüne Wahlkampfchef Michael Kellner stellt sich zwei Tage nach dem politisch vergifteten Testat Seehofers demonstrativ hinter seine Kanzlerkandidatin. „Annalena ist und bleibt unsere Kanzlerkandidatin". Ein bisher noch nie dagewesener Vorgang in einem Bundestagswahlkampf. Der Wahlkampfchef sieht sich gezwungen, noch mal allen Bescheid zu geben, dass die eigene Kanzlerkandidatin tatsächlich die Spitzenkandidatin ist und das auch bleiben soll. Keine weitere zwei Tage später die nächsten Ungereimtheiten im Lebenslauf der Grünen-Kanzlerkandidatin. Die Doktorandin Annalena Bearbock hat knapp drei Jahre, von April 2009 bis Dezember 2012, von der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung monatlich 1.050 Euro Stipendium erhalten. Insgesamt fast 41.000 Euro, für eine Doktorarbeit, die nie vollendet wurde, nicht mal Zwischenergebnisse zu ihrer Dissertation sollen offenbar vorliegen. Die Böll-Stiftung stellte schnell klar, dass die Abbruchsquote nur bei vier Prozent liegen würde und eine Rückzahlung des Stipendiums nicht vorgesehen sei, auch wenn die angestrebte Promotion abgebrochen wurde. Hektische Betriebsamkeit im Wahlkampfteam Baerbock. Die Kanzlerkandidatin der Grünen bittet die parteinahe Stiftung nun um Überprüfung des gewährten Stipendiums. Diesmal versucht es die Kandidatin mit der Flucht nach vorn. Noch vor einem halben Jahr, brillierte sie gegenüber ihren Co-Vorsitzenden Habeck mit der Feststellung, dass sie Völkerrechtlerin sei und der Robert irgendwas von Kühen und Landwirtschaft verstehen würde.
Unabhängig davon, dass selbst diese Bezeichnung problematisch ist, steht die Frage im Raum, ob sie überhaupt einen Anspruch auf das Stipendium gehabt hat, das zu einer Dissertation zu „Naturkatastrophen und humanitäre Hilfe im Völkerrecht" führen sollte. Als brandenburgische Parteichefin der Grünen hatte Baerbock Einkünfte. Damit hätte sie, laut Satzung der Böll-Stiftung, eigentlich keinen Anspruch auf ein Stipendium gehabt. Auch die Förderrichtlinien des Bundesforschungsministeriums ziehen da enge Grenzen.
Trotz allem hält einer unbeirrt zu ihr – ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck. Er bezeichnet die ganze Debatte um eine Ablösung von Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin und Spekulationen um sein mögliches Nachrücken als „Kokolores". Allein der Umstand, dass ihm überhaupt die Frage gestellt wird, zeigt erneut, wie verfahren die Situation bei den Grünen ist. Kein Reporter käme auf die Idee, so eine Frage bei der SPD an Saskia Esken oder bei der Union an Annegret Kramp-Karrenbauer zu richten.
Personaldebatten in dieser Phase ungewöhnlich
Baerbocks Kanzlerkandidatur wird immer wackliger, vom Kampf um Platz eins, wie zu Beginn der Kampagne, ist derzeit keine Rede mehr, es sei denn es geschieht ein Wunder. Habeck kann jetzt eigentlich die Hände in den Schoß legen, der Rest läuft derzeit zu seinen Gunsten in Richtung auf den nächsten Bundesparteitag.
Was bei dem Wahlkampfauftakt der Grünen überrascht, sind die Fehler, die schon andere Parteien vorgemacht haben. Alles lief über drei Jahre gut bei den Grünen, die Parteizentrale ist vom politischen Geschäftsführer Michael Kellner generalstabsmäßig seit 2018 aufgestellt worden. Sein Blick immer auf die Bundestagswahl ausgerichtet, kein Interview, keine Meldung von oder mit Annalena Baerbock oder Robert Habeck verließ das Haus ohne sein O.K. Doch kaum hatte Bearbock die „Frauenkarte" bei der Kandidatenkür gezogen, holte sie sich ihre eigenen Berater ins Haus.
Da ist beispielsweise ihr Ehemann und ein enger Freund. Beide haben bereits drei Bundestagswahlkämpfe für die Grünen mitorganisiert, doch bei den Ergebnissen nicht wirklich überzeugt. Die Grünen plagt das Phänomen, dass sie in den Umfragen vor der Wahl immer Top sind und am Wahlabend gibt es dann lange Gesichter. Nun ist genau diese Wahlkampfkombo bei den Grünen wieder am Start. Dazu kommt noch das Baerbock-Bundestagsbüro, das ebenfalls ein Eigenleben führt und unter anderem für den ständig veränderten Lebenslauf ihrer Chefin verantwortlich zeichnet. Viele Köche verderben bekanntlich den Brei, das gilt auch für die Politik.