Johannes Vetter pulverisiert reihenweise die 90-Meter-Marke. Er selbst muss der Perfektion widerstehen und teilweise sogar gebremst werden – es zählt für Olympia.
Wer Johannes Vetter schon einmal bei einem Speerwurf gesehen hat, ist meist von diesem Kraftpaket beeindruckt. Wenn sich die gesamte Energie entlädt und der Speer die Hand verlässt, folgt ein Urschrei. Der kann durchaus mal kurz sein oder sich etwas länger ziehen. Dauert der Flug des Speers dann länger als der lauteste Schrei, folgt meist schon der Jubel. So war es beim Anhalt-Meeting in Dessau vor etwas mehr als einem Monat, als er satte 93,20 Meter warf. 49 Stunden davor warf er auch schon über 90 Meter. 14 Siege in Serie hat Vetter mittlerweile auf dem Konto. Als die Kollegen der Tageszeitung „Süddeutsche" ihn fragten, ob das alles nicht irgendwie unheimlich sei, erwiderte er nur: „Gar nicht."
„Wenn der Wind ordentlich durch das Stadion peitscht, müssen die Stabhochspringer am anderen Ende des Stadions aufpassen", scherzte sein Trainer Boris Obergföll noch vor den besagten Wettkämpfen. Windig war es, gefährlich wurde es aber für niemanden. Vetter hatte sich nach vier Würfen selbst dazu entschieden, es dabei zu belassen.
Das ist mittlerweile die größte Herausforderung für den Ausnahmesportler. Nicht mehr das Werfen und das Training, noch das Reisen sind seine größten Baustellen. Einfach mal bremsen und sagen: Das war genug. Damit hatte das Kraftpaket oft seine Probleme. „Mein Trainer wird heute sagen: Das war eine meiner schlauesten Entscheidungen, den Wettkampf nach vier Würfen zu beenden. Ich glaube, darauf ist er fast stolzer als auf den 93-Meter-Wurf", erklärte Vetter nach seinem Sieg. Nur weil der Körper sich anfühlt und aussieht, als könne ihm nichts passieren, ist er noch lange nicht unverwundbar.
Wenn der Speerwurf-Wettbewerb bei den Olympischen Spielen in Tokio beginnt, werden sich viele die Frage stellen: Wo geht die Reise noch hin? Im nächsten Atemzug wird dann hinterhergeschoben: Ist der 28-Jährige vielleicht zu früh an seinem Limit gewesen? Denn eigentlich ist die Saison der Speerwerfer erst angelaufen. In Ostrava beispielsweise warf Vetter 94,20 Meter. Das war der siebtweiteste Wurf seit Einführung des neuen Speers 1986. Um Vetters Übermacht zu verdeutlichen: Der aktuelle Weltmeister Anderson Peters wurde in Tschechien Zweiter, mit 83,39 Meter. Mehr als zehn Meter liegen zwischen Vetter und dem aktuellen Weltmeister.
Um die 80 Meter wirft Vetter auch ab und an – jedoch meistens mit halber Intensität und auch schon mal beim Einwerfen. Vetter drückt deshalb auch manchmal auf die Bremse, wirft kräfteschonender, um den austrainierten Körper beisammenzuhalten. Doch selbst wenn er sich bremst „gehen die immer noch auf 88 Meter", sagt er. „Es ist gerade so, als würde ich die zum Frühstück essen. Muss man ein bisschen aufpassen." Aufpassen auf den eigenen Körper, aber auch auf die Gedanken, die einem vor Olympia durch den Kopf kreisen. Denn 90-Meter-Würfe sind für ihn zum Standard geworden, einfaches Tagesgeschäft. „90 Meter sind für mich gerade so, wie wenn andere 80 oder 85 Meter werfen. Das ist schon enorm, da muss man den Ball flach halten, nicht überpacen, gesund bleiben", weiß Vetter.
Und gerade die Gesundheit spielt bei Vetter aufgrund seiner Vorgeschichte eine sehr große Rolle. Der Fuß am Stemmbein bereitete mit einer Knochenabsplitterung lange Probleme – und trotzdem reichte es 2019 noch für WM-Bronze in Doha. Genießen konnte er das damals aber nicht. Dafür gab es gute Gründe. Zum einen seine eigene Gesundheit, zum anderen war seine Mutter Ende 2018 gestorben. Nach seiner Bronze-Medaille ließ er sich dann am Fuß operieren und fand auch Wege, um mit seiner Trauer umzugehen. „Ich habe aus der Verarbeitung sehr viel für mich mitgenommen und einen Reifeprozess durchgemacht", sagt er heute. „Ich weiß, dass Mama enorm stolz auf mich ist, immer noch. Und sehr auf mich Acht gibt." Er sei heute „ein bisschen ein anderer Johannes Vetter als noch die Jahre zuvor". Einer, der nicht nur immer mehr will, sondern einer der weiß, dass auch weniger manchmal mehr sein kann. Um die richtige Balance zu finden, die er braucht, um bei seinen zweiten Olympischen Spielen das angestrebte Gold auch abzuholen.
Bei den Spielen in Rio 2016 fehlten ihm nur sechs Zentimeter zu Bronze, Thomas Röhler wurde damals Olympiasieger. Dann begannen sich die Verhältnisse aber zu verschieben. Vetter wurde Weltmeister in London, Röhler nur Vierter. Röhler bestritt 2020 nicht einen einzigen Wettkampf. Er nutzte diese Zeit vor allem fürs Trainieren und auch für seine neue Rolle als Familienvater. Den Saisonstart in Dessau verpasste er aber auch aufgrund einer Muskelverhärtung im Rücken. Ein Aufeinandertreffen der Beiden wurde bei den Deutschen Meisterschaften in Braunschweig erwartet, doch Vetter sagte ab.
„Ich habe einiges vor", sagt Vetter kämpferisch
„Das Ergebnis des MRT heute war gut, und wir sind auf dem richtigen Weg. Dennoch haben sich mein Team und ich schweren Herzens dafür entschieden, nicht bei den Deutschen Meisterschaften sowie bei den anschließenden Meetings in Turku und Orimattila anzutreten. Wir wollen im Hinblick auf Tokio kein Risiko eingehen", schrieb er damals an seine Fans gerichtet auf seinen sozialen Kanälen. Und beendete den Post auf Instagram mit den Worten: „Ihr müsst euch noch ein bisschen gedulden, bis ihr meine nächsten 90-Meter-Würfe sehen werdet – aber sie werden kommen! Ich werde die Deutschen Meisterschaften jetzt vermutlich vom Baggersee aus verfolgen und drücke allen Teilnehmern die Daumen." Er weiß mittlerweile einfach, was er imstande ist, zu leisten. Das kommt durch seine unfassbaren Leistungen, bei denen er sich nur noch mit historischen Bestmarken und dem eigenen Vermögen messen kann. „Technisch gibt es immer noch ein paar Reserven, da bin ich Perfektionist", sagt er selbst. Seine eigenen Grenzen hat er bis jetzt noch nicht gefunden. Im vergangenen September fehlten ihm mit 97,76 Metern ja nur 72 Zentimeter zum Weltrekord von Jan Zelezny von 1996. „Ich habe einiges vor", sagt Vetter kämpferisch.
So locker, wie Vetter gerade wirkt, soll es auch in Tokio weitergehen. Er strahlt eine Leichtigkeit aus, die auch notwendig sein wird. Denn wenn er sich mit einem Speer in der Hand auf den Weg zum Abwurf macht, wirken enorme Kräfte auf seinen Körper – fast das Zehnfache des eigenen Körpergewichts. „Man merkt es dann schon ein bisschen in den Knochen, dass man ein bisschen vorsichtig sein muss", sagt er. Gesund durchkommen bis Tokio, das ist jetzt die Devise. Deshalb hat er wie gesagt die Deutsche Meisterschaft kurzerhand abgesagt. Eine Entscheidung, die der jüngere Johannes Vetter so wohl nicht getroffen hätte. Tipps hat er sich beim ehemaligen Diskuswerfer Robert Harting geholt. Wie so ein Lauf am besten zu verarbeiten ist und wie es ist, wenn eine Verletzung alle Träume platzen lässt. „Man hört schon sehr tief in sich rein, was gibt der Körper für Signale", sinniert Vetter. Dann ist es oft besser, weniger zu machen. Das ist schwer, wenn es läuft und das Adrenalin bei riesigen Weiten durch den Körper schießt. „Weltklasse, phänomenal, einfach geil", fand er seine Würfe in Dessau. Die Energie, die er dann nicht mehr für seine Würfe aufbringen wollte, ließ er einfach durch seine Worte frei.
Bei den Olympischen Spielen wird er alles versuchen, um in absolut ausgeruhter Topform aufzulaufen. Sollte ihm keine schwere Verletzung einen Strich durch die Rechnung machen, kann ihn eigentlich niemand mehr an einer Goldmedaille hindern – außer er selbst. Es wird spannend, wie Johannes Vetter den Wettkampf gegen sich selbst bestreiten wird.