Wenn das legendäre DRV-Flaggschiff, der Deutschland-Achter, am 30. Juli das Finale in Tokio bestreiten wird, gibt es für die Crew um Steuermann Martin Sauer und Schlagmann Hannes Ocik nur ein Ziel: Olympisches Gold bei den Ruder-Wettbewerben gewinnen.
Als der Deutschland-Achter Mitte Oktober 2020 auf dem Maltasee im polnischen Posen mit einer Bootslänge Vorsprung vor dem rumänischen Team die Goldmedaille bei den Ruder-Europameisterschaften gewonnen hatte, dem coronabedingt einzigen internationalen Wettbewerb des Jahres, war das alles andere als eine Überraschung. Schließlich war das Flaggschiff des Deutschen Ruderverbandes (DRV), das seit 2017 von Uwe Bender trainiert wird, seit vier Jahren in Wettbewerben ungeschlagen und hatte in Posen den neunten Kontinental-Triumph in Folge errungen. Die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Tokio hatte die erfolgsbesessene Crew schon 2019 durch den Sieg bei der Weltmeisterschaft im österreichischen Linz unter Dach und Fach gebracht, es war der insgesamt 14. WM-Titel des deutschen Paradebootes, das nur bei den olympischen Gipfeltreffen mit „nur" vier Goldmedaillen nicht immer auf dem obersten Treppchen gestanden hatte.
Als Anfang April dieses Jahres die Europameisterschaften im italienischen Varese anstanden, war der Deutschland-Achter natürlich wieder der haushohe Titel-Favorit. Auch wenn diesmal mit Rio-Olympiasieger Großbritannien der seit Jahren ärgste Konkurrent mit dabei war, der in Posen noch wegen der Pandemie pausiert hatte. Varese war allerdings so etwas wie ein Kaltstart in die Saison, der erste Wettbewerb des Jahres überhaupt und damit eine von allen Teams heiß begehrte leistungsmäßige Standortbestimmung. Bundestrainer Uwe Bender hatte bereits vorab festgelegt, dass er keine Veränderungen an dem achtköpfigen Team vornehmen wollte, das im Frühjahr 2020 nach einer mühevollen Selektion zusammengestellt worden war und auch für Tokio gesetzt ist: Schlagmann Hannes Ocik, Richard Schmidt, Malte Jakschik, Jakob Schneider, Torben Johannesen, Olaf Roggensack, Laurits Follert, Johannes Weißenfeld sowie Steuermann Martin Sauer.
Die Crew fühlte sich für das erste Kräftemessen in Varese bestens vorbereitet, weil man zur Saisonvorbereitung schon 3.000 Kilometer gerudert hatte. „Wir haben den Vorteil", sagte Uwe Bender, „dass wir uns bereits über eine längere Zeit einfahren konnten." Auch Schlagmann Hannes Ocik hatte der EM mit großer Vorfreude entgegengefiebert: „Nach gefühlt eineinhalb Jahren, die wir jetzt durchtrainiert haben, brennt es uns unter den Fingernägeln. Es ist gut, dass wir jetzt wieder Rennen fahren können… Wir müssen uns auf uns konzentrieren und wollen in Tokio unsere beste Performance abrufen. Und die Vorleistungen der vergangenen Jahre geben das klare Ziel aus: Wir wollen am Ende vorne landen. Man muss aber auch beachten: Diese Saison wird eine ganz besondere, die mit vielen Fragezeichen versehen ist. Die größte Frage ist: Wie kommen die einzelnen Nationen aus der Coronakrise heraus?"
Steuermann Martin Sauer sprach Tacheles
Für den Deutschland-Achter ließ sich die Antwort in Varese mit einem einzigen Wort umschreiben: schlecht! Ein indiskutabler vierter Platz war schlichtweg eine Blamage. Noch schlimmer: Über diese extrem schwache Platzierung war man nicht nur im Finale, sondern auch schon im zur Bahnverteilung angesetzten Vorlauf nicht hinausgekommen, als man Großbritannien, Rumänien und den Niederlanden den Vortritt lassen musste. Es war also kein einmaliger Patzer im Entscheidungsrennen. „Wir haben versucht aufzuholen, aber keine Attacke hat geholfen", sagte Johannes Weißenfeld. „Im Endspurt haben wir uns dann quasi ergeben – und die anderen sind noch an uns vorbeigezogen."
Im Vareser Finale wollte man es dann besser machen, der Deutschland-Achter setzte sich aggressiv an die Spitze, dominierte die ersten 1.000 Meter mit einer halben Bootslänge Vorsprung auf der bekanntlich 2.000 Meter langen Rennstrecke (die Weltbestzeit wird seit 2017 von Deutschland mit 5:18,68 Minuten gehalten) – und brach dann regelrecht ein. Großbritannien, das auf dem dritten Teilstück mit Deutschland gleichauf zog, gewann ungefährdet, im Schlussspurt musste man dann auch noch Rumänien und die Niederlande passieren lassen.
„Das ist ernüchternd", sagte Hannes Ocik. „Wir haben alle Mittel eingesetzt, die uns derzeit zur Verfügung stehen. Auf den letzten 500 Metern fehlte uns der letzte Punch, und wir sind vom Kurs abgekommen. Das müssen wir sacken lassen und in Ruhe analysieren." Ähnlich ernüchtert kommentierte Richard Schmidt das Renngeschehen: „Uns hat am Ende das Stehvermögen gefehlt. Man hat gesehen, dass die anderen Nationen nicht geschlafen haben. Wir gewinnen als Team und verlieren auch als Team. Da müssen wir auch wieder rauskommen und zusehen, dass wir in Tokio topfit sind." Das deutsche Paradeboot musste in Varese die erste Pleite in Finalrennen bei Titelkämpfen seit den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro hinnehmen. Seinen Nimbus der scheinbaren Unbesiegbarkeit hatte der Deutschland-Achter jedenfalls in Varese erst einmal verloren.
Steuermann Martin Sauer, der als sechsmaliger Weltmeister und Olympiasieger von 2012 eine herausragende Persönlichkeit im Team darstellt und seine Karriere mit Tokio erfolgreich beenden möchte, sprach Ende April Tacheles. Und er scheute auch nicht davor zurück, den Bundestrainer direkt anzugreifen: „Ehrlich gesagt, die gesamte Vorbereitung für dieses Ereignis war eine ziemlich amateurhafte Veranstaltung. Und dann kriegst Du halt den Arsch voll…Ich glaube, wir im DRV unterliegen Träumereien, was die anderen können. Die können nämlich richtig was. Es wäre völliger Quatsch, zu erzählen, dass das hier gut aussieht. Wir haben große Probleme, und es ist auch wenig Hilfe in Aussicht. Wir müssen uns etwas ausdenken."
Auch Schlagmann Hannes Ocik äußerte wenig später Kritik an der Trainingsgestaltung auf dem heimischen Stützpunkt in Dortmund, wo man sämtliche Einheiten des Jahres abspulen musste, weil das geplante Trainingslager in Portugal coronabedingt abgesagt werden musste: „Immer Umfang, Umfang, Umfang. Und dann ging irgendwann ein bisschen die Qualität verloren. Das haben wir in den vergangenen Wochen noch mal ein bisschen geändert, haben doch mehr auf die Qualität gesetzt. So dass wir, wenn wir Einheiten auf dem Wasser hatten, wirklich schnell gerudert sind."
Da der für Anfang Mai geplante Weltcup in Zagreb wegen zu geringer Nationen-Meldezahl abgesagt wurde, hatte das deutsche Team genügend Zeit, um die Trainingsabläufe im Hinblick auf die Tokio-Generalprobe beim Weltcup auf dem Luzerner Rotsee (Finallauf: 23. Mai) neu auszurichten und zu optimieren. Es wurde gewissermaßen jeder Stein umgedreht und vor allem an der Steigerung der Leistungsfähigkeit auf den letzten 500 Metern gefeilt. Bundestrainer Uwe Bender hatte vor Luzern zu seinem Optimismus zurückgefunden: „Wir haben in den letzten Wochen sehr gut gearbeitet und sind als Mannschaft einen Schritt vorwärtsgekommen. Ich glaube, dass wir deutlich besser drauf sind. Was das wert ist, das werden wir dann im Rennen herausbekommen."
Luzern sollte die Wende zum Guten bringen, weil der Deutschland-Achter sich wieder auf Augenhöhe mit Großbritannien präsentieren konnte. Im freitäglichen Bahnverteilungsrennen konnten die Briten sogar knapp mit einem Vorsprung von 19 Hundertstelsekunden geschlagen werden. Obwohl eine Verbesserung des Stehvermögens auf den letzten 500 Metern offenkundig war, waren die Briten im Schlussspurt noch einmal bedrohlich nahegekommen. „Die Veränderungen scheinen richtig gewesen zu sein", sagte Uwe Bender. „Das bringt uns zurück ins Spiel." Beim sonntäglichen Finale sollte der Deutschland-Achter dann allerdings um den Wimpernschlag von drei Hundertstelsekunden gegenüber den Briten den Kürzeren ziehen. „Das war eine super kämpferische Leistung und Spannung pur", betonte Bender. „Am Ende waren die Briten in der besseren Position. Als wir die Ruder eingesetzt haben, waren sie im Vorrollen." Es war ein enges Rennen, auf den ersten 500 Metern lag Deutschland mit vier Zehntelsekunden in Front, bei Streckenhälfte waren die Briten mit zwei Zehntelsekunden vorne, auf den letzten 500 Metern war es dann ein gnadenlos enger Schlagabtausch.
Ein ähnliches Szenario könnte es am 30. Juli beim Kampf um die olympische Goldmedaille auf der Salzwasser-Regattastrecke Sea Forest Waterway geben. Allerdings werden dann womöglich auch noch die Achter anderer Nationen, beispielsweise aus den USA, aus Australien, Neuseeland, den Niederlanden oder Rumänien, ein ernstes Wort um das oberste Podest mitsprechen wollen. Bis zum Tokio-Finale wird man sich nicht mehr miteinander messen. Vor allem die Formkurve der Übersee-Teams ist völlig unbekannt. Auf den Deutschland-Achter könnte nach Trainingslagern im österreichischen Völkermarkt und im japanischen Kinosaki daher ein echter Poker ums Gold warten. Für den DRV wäre ein Sieg seines Flaggschiffs enorm wichtig, weil der Deutschland-Achter neben Skiffer Oliver Zeidler die größte Goldhoffnung darstellt und der Verband in Tokio nur in sieben der 14 Wettkampfklassen vertreten ist.