Warum Politiker noch immer viele Chancen ungenutzt lassen
Der Bundestagswahlkampf nimmt Fahrt auf und die Corona-Situation könnte sich – der Delta-Variante wegen – nicht dauerhaft so entspannen, wie wir alle uns das wünschen. Große Wahlveranstaltungen und Aufläufe könnte es möglicherweise nicht in dem gewünschten Maße geben, und auch der sonstige Straßenwahlkampf wird wahrscheinlich bestimmten Restriktionen unterworfen sein.
Im September, kurz vor dem Wahltermin, bricht schon langsam der Herbst an. Umso wichtiger wird dann wieder das digitale Schlachtfeld, die Wahlkampagne im Internet, vor allem in den sozialen Medien. Das hat bisher nur eher verhalten begonnen, aber da kommt gewiss noch das eine oder andere auf uns zu.
Das grundsätzliche Problem dabei scheint aber zu sein, dass viele Wahlkämpfer – ebenso wie die Kandidaten – immer noch ein Problem damit zu haben scheinen, was die adäquate Nutzung der sozialen Medien eigentlich an Engagement erfordert. In den Papieren der Wahlkampfmanager wird dies oft relativ blumig mit dem Wort der „Präsenz" oder „Reichweite" umschrieben, und die entsprechenden Statistiken weisen auf die Anzahl der geschalteten Anzeigen in Facebook & Co. hin, die tatsächliche oder angenommene Reichweite solcher Aktivitäten und deren Ausrichtung auf gewisse Zielgruppen. Die sozialen Medien, der Eindruck drängt sich mitunter auf, werden immer noch ganz klassisch wie eine Webseite oder ein Blogeintrag, wie eine digitale Plakatwand angesehen, bei der man dann bestenfalls die Kommentarfunktion abschaltet.
Und exakt da liegt das Problem. Soziale Medien leben dadurch – und tun manchmal genau deswegen so weh – dass sie Interaktion ermöglichen. Dabei geht es nicht notwendigerweise um tiefgründige und ausufernde politische Detail-Diskussionen. Hier ein Beispiel dessen, was ich meine: Vor kurzem habe ich auf Twitter die Krimiserie „Bosch" sehr gelobt, und zwar gleichermaßen die guten Drehbücher wie den Hauptdarsteller Titus Welliver. Als kurz darauf eben jener Hauptdarsteller meinen Tweet „geliked" hatte, war das – ich gebe es unumwunden zu – ein Highlight meines stressigen Tages.
Es war keine große Diskussion, kein inhaltlicher Austausch, es war einfach das Gefühl, für einen Moment wahrgenommen worden zu sein. Dieses Gefühl der gegenseitigen Wahrnehmung ist es, was soziale Medien als Kommunikationsplattform so spannend macht – vor allem für jene, die etwas zu verkaufen haben, entweder Krimiserien oder sich selbst bei einer Kandidatur.
Viele Politiker – oder deren PR-Teams – haben das noch nicht begriffen oder es ist ihnen zu anstrengend. Natürlich müsste man in stärkerem Maße die extremen Trolle und bezahlten Störenfriede wegmoderieren, aber das alleine kann doch nicht der Grund für die betäubende, individuelle Schweigsamkeit vieler (nicht aller) Politiker in den sozialen Medien sein.
Es entsteht das Gefühl, dass diese kein Problem damit haben, ihre Einschätzungen durchaus persönlich und individuell formuliert in die Welt zu geben, in dem Moment aber die Rollläden runterzufahren, wo die Antworten und Reaktionen eintreffen.
In einem Medium wie etwa Facebook führt das automatisch dazu, dass man auch bei den Wohlwollenden, ja sogar den Anhängern, als unnahbar und distanziert angesehen wird. Wer nur wahrgenommen werden will, aber niemanden sonst wahrnimmt, kommt um diesen Eindruck nicht herum. Und sobald dieses Stadium erreicht ist, schlägt man sich den größten Effekt eines Wahlkampfes in den sozialen Medien selbst aus der Hand.
Natürlich wäre die richtige Nutzung dieser Plattformen zeitaufwendig. Niemand erwartet von einem Spitzenkandidaten, stundenlang auf Tweets zu antworten. Aber wenn man soziale Medien nur als Verkündungsinstrument nutzen möchte, sollte man vielleicht konsequenterweise im eigenen Profil gleich darauf hinweisen: „Ich lese Ihre Antworten nicht und sie interessieren auch niemanden!" Dann wüsste man gleich, woran man ist.