Toni Kroos ist Weltmeister, er hat die siebtmeisten Länderspiele und so oft wie kein anderer Deutscher die Champions League gewonnen. Nun ist er aus der Nationalelf zurückgetreten. Viele liebten seine Art, Fußball zu spielen. Andere sahen sie kritisch.
Am Tag seines Rücktritts aus der Nationalmannschaft sagte Toni Kroos in der „Bild" einen bemerkenswerten Satz: „Ich sage mal so: Besser in Deutschland umstritten und weltweite Anerkennung – als andersrum." Das klingt ein bisschen verbittert, ja zynisch. Doch so ist es wahrscheinlich gar nicht gemeint. Sondern einfach genauso, wie Kroos es gesagt hat. Im Kern und von seinem Wesen her ist Toni Kroos eigentlich niemand, der polarisiert. Und dennoch war er einer, an dem sich die Geister schieden.
Er spielt für Real Madrid, den größten Verein der Welt. Wird in Spanien von Fans und Experten hofiert und verehrt, bei Reisen durch die ganze Welt euphorisch gefeiert. In Deutschland aber wurde er seit Jahren kritisch gesehen. Da war er vor allem der „Querpass-Toni". Nun macht es sich Kroos sicher selbst ein bisschen leicht, wenn er erklärt: „Manchmal hatte ich aber schon das Gefühl, dass einige mein Spiel in elf Jahren Nationalmannschaft nicht ganz verstanden haben."
Denn es sind nicht immer nur die Ahnungslosen, die ihm zu viel Ballschieberei vorwerfen. „Er sieht sich besser, als ich ihn bewerte", schrieb beispielsweise Rekordnationalspieler Lothar Matthäus in seiner „Sport Bild"-Kolumne. Kroos sei „ein toller, eleganter Spieler. Bei der EM war seine Leistung aber enttäuschend, er konnte die Mannschaft nicht führen." Ihm hätten „Leidenschaft, Feuer und vertikale Pässe" gefehlt, analysierte Matthäus: „Da bringen all die Ballkontakte nichts, das ist schön anzuschauen – aber nicht effektiv. Seine Flach- und Flugbälle sind wie seine Frisur: schön sauber, total korrekt. Aber: Das nimmt Zeit und Esprit aus dem Spiel. Es waren zu viele Querpässe."
Bei Real fast immer einer der Besten
Das ist harter Tobak, aber so ziemlich genau das, was die Kritiker Kroos oft vorwarfen, in geballter Form. Stimmen die Vorwürfe also doch? Klares Jein. Sie mögen für diese EM durchaus angebracht sein. Das Problem ist, dass Kroos dies schon viel zu lange verfolgt und zu pauschalisiert vorgeworfen wird. Im Endeffekt waren es zwei Dinge, die seinen Ruf zuletzt schwächten. Zum einen ist Kroos – trotz seines Tors des Willens zum 2:1 gegen Schweden bei der WM 2018 – im Kern kein Spieler, der taumelnde Mannschaften aufrüttelt und auf Kurs bringt. Das mag man ihm angesichts seiner Erfahrung und seiner Position vorwerfen, aber da kann er eben nicht aus seiner Haut. Kroos ist ein Spieler, der gute Mannschaften besser macht. Der kongeniale Mitspieler glänzen lassen und in Szene setzen kann. Der hinter Sturm-Stars im Schaltraum das Tempo vorgibt und variiert. Deshalb war er bei Real in den guten Jahren fast immer einer der Besten. Und auch beim 7:1 gegen Brasilien im legendären WM-Halbfinale 2014 war er unter vielen Guten der Beste. Das Fachblatt „Kicker" vergab fünfmal die Note 1,0, aber Kroos war der „Spieler des Spiels". Die Begründung. Er sei „die Schaltstation des deutschen Teams, außer mit seinen zwei Toren und dem Assist zum 1:0 glänzte er auch mit den meisten Ballkontakten (83) und einer starken Passquote (93 Prozent)."
Zum zweiten hat Kroos – vielleicht auch angesichts der gerade geschilderten Umstände – vielleicht einfach zu spät aufgehört. Obwohl er erst 31 ist und nach der WM 2018 erst 28 war. Aber zum einen konnte er dieser Mannschaft in ihrer Konstellation offenbar nicht mehr so viel geben. Und zum anderen hat das Vorrunden-Aus vor drei Jahren vielleicht auch bei ihm Spuren hinterlassen. Es sei „jedes einzelne Mal, wirklich alle 106 Spiele, etwas Besonderes für mich, mein Land zu repräsentieren", versicherte Kroos zwar. Sagte an selber Stelle aber: „Während meiner aktiven Karriere als Nationalspieler habe ich die Länderspiele zeitweise schon ein wenig als selbstverständlich hingenommen." Bundestrainer Joachim Löw hatte ihm 2018 signalisiert, dass er auf ihn baue, dass er bei ihm gesetzt sei. Deshalb hatte sich Kroos trotz damals schon vorhandener Gedanken entschieden, weiterzumachen.
Doch ist er nun auch Teil der Kritik am System Löws bei dieser EM. Denn ein Kern des Problems war, dass der Bundestrainer seine vier zentralen Mittelfeldspieler Joshua Kimmich, Ilkay Gündogan, Leon Goretzka und Kroos unterbringen wollte. Als Goretzka zu Beginn verletzt war, waren es nur noch drei. Und mit Kimmichs Versetzung auf die rechte Außenverteidiger-Position ging es auf. Doch mit Gündogan musste Kroos den defensiveren Part der beiden „Sechser" spielen, den sonst Kimmich ausgefüllt hätte. Also tatsächlich den „Sechser" und nicht den „Achter", der er eigentlich mehr ist. Als solcher glänzte er bei Real, wenn er Casemiro neben und eben doch leicht hinter sich wusste. Und beim 7:1 gegen Brasilien hatte Schweinsteiger den „Sechser" gegeben und Kroos war auch da „Achter".
Es passte also vieles nicht mehr so recht zusammen. Auch deshalb war das Achtelfinal-Aus bei dieser EM folgerichtig. Und der Rücktritt von Kroos aus dem Nationalteam ist es auch. Das Urteil, das nun vielerorts rückblickend für sein gesamtes Wirken in der Nationalmannschaft gefällt wird, ist dennoch falsch und ungerecht. Kroos war technisch einer der besten Fußballer, die Deutschland in diesem Jahrtausend hatte. Er ist nicht umsonst der einzige Deutsche, der viermal Champions-League-Sieger wurde. Er hat auch dem Nationalteam einiges gegeben. Wenn er sowohl taktisch als auch im Mannschafts-Gefüge seine zu ihm passende Rolle hatte.
Bei Jogi Löw immer gesetzt
Auf 106 Länderspiele brachte es Kroos letztlich. Damit belegt er in der Rekordliste des DFB gemeinsam mit Thomas Müller den siebten Platz. Vor ihm stehen nur Lothar Matthäus (150), Miroslav Klose (137), Lukas Podolski (130), Bastian Schweinsteiger (121), Philipp Lahm (113) und Jürgen Klinsmann (108). Wie sehr Jogi Löw auf ihn setzte, zeigt auch folgende Bilanz: Bei seinen letzten 30 Länderspielen spielte Kroos immer durch. Zuletzt ausgewechselt wurde er im März 2017 in Aserbaidschan – in der 89. Minute. Als Kroos nun nach der EM und seinem Rücktritt gefragt wurde, was er zum Rücktritt des Bundestrainers sagt, antwortete er: „Ich glaube, dass das jetzt ein guter Zeitpunkt ist. Jogi hat das ja auch selbst erkannt." Und so war es eben auch bei ihm.
„Die Entscheidung steht, sie ist unwiderruflich", sagte Kroos in seinem Podcast „Einfach mal Luppen" drei Tage nach dem EM-Aus im Gespräch mit seinem Bruder Felix. „Es ist immer so, dass nach Turnieren logischerweise gewisse Resümees gezogen werden", sagte er. Dennoch habe sein Schritt „absolut nichts mit dem Ausscheiden zu tun gehabt. Es war mir schon länger klar, dass ich für die WM 2022 in Katar nicht zur Verfügung stehe."
Löw informierte Kroos vorher nicht mehr. Das sei ja nicht mehr nötig. Er habe ihm aber schon im März, als Löw ihn anrief, um seinen Rücktritt zu erklären, gesagt, dass sie dann möglicherweise zusammen aufhören. Auch während des Turniers habe er zu den Kollegen maximal Andeutungen gemacht. Den neuen Bundestrainer Hansi Flick habe er aber informiert, dass er nicht mehr mit ihm planen könne. Flick habe die Entscheidung „wirklich sehr bedauert", habe aber erklärt, dass er sie verstehen könne.
Bis zu seinem Vertrags-Ende in zwei Jahren – über ein mögliches Karriere-Ende dann hat Kroos auch schon laut nachgedacht – will er sich zunächst voll auf Real konzentrieren. „Dazu werde ich mir von nun an ganz bewusst auch mal Pausen gönnen, die es als Nationalspieler seit elf Jahren nicht mehr gab", kündigte er an: „Und außerdem möchte ich auch mehr als Ehemann und Papa für meine Frau und meine drei Kinder da sein. Ich bin jemand, der noch mehr drunter leidet, wenn er nicht bei der Familie ist, als andere. Deshalb war das keine einfache Zeit. Jetzt im September wären die nächsten Länderspiele und dann wieder im Oktober und dann wieder im November. Da muss ich schon sagen, habe ich eine große Vorfreude drauf, woanders zu sein."
Also machte Kroos einen Haken hinter seine Nationalmannschafts-Karriere. Und verabschiedete sich mit den Worten: „Es war mir eine große Ehre. Und Danke an alle Kritiker für ihre Extramotivation."