Ein Positionspapier aus dem Robert Koch-Institut fordert neue Berechnungen. Der Inzidenzwert soll nicht mehr einziger Maßstab für Maßnahmen sein. Die Politik reagiert zögerlich.
Seit Wochen liegt der Inzidenzwert auf niedrigem Niveau, aber er steigt wieder, langsam und kontinuierlich. Schuld daran ist die Delta-Mutante. Während vielfach Befürchtungen vor einer vierten Welle wegen der größeren Ansteckungsgefahr diskutiert werden, haben Virologen bereits eine Lambda-Mutante aus Südamerika ausgemacht, die als Nächstes drohen soll. Zwar kann niemand so recht erklären, warum die nach dem griechischem Alphabet eigentlich folgende „Epsilon-Variante" in der Aufreihung der Corona-Viren übersprungen wurde, aber im Robert Koch-Institut schrillen trotzdem die Alarmglocken. „Jede Virusvariante bringt automatisch weitere Mutationen hervor, denn auch das Virus will überleben", betonte RKI-Virologe Lothar Wieler bereits im April gegenüber FORUM.
Kritik an Inzidenz als Messgröße ist nicht neu
Steigen die Inzidenzwerte weiter und womöglich noch schneller, fürchten einige sogar, dass die Urnengänge im Bund, aber auch die Wahlen zu den Landtagen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin auf der Kippe stehen könnten. Schuld könnte der bisher berechnete Inzidenzwert sein. Steigt der Inzidenzwert weiter wie seit Anfang Juli, würden Deutschland rein rechnerisch spätestens Mitte September Inzidenzwerte von mindestens 200 drohen samt den Maßnahmen, wie sie in den letzten Monaten gegriffen haben, Lockdown inklusive. Ausschließen will das derzeit kaum jemand, auch wenn allseits beteuert wird, alles zu tun, um eine solche Entwicklung zu verhindern.
Zugleich ist eine Diskussion um den Inzidenzwert selbst als Maßstab aller Entscheidungen entbrannt. Teilweise ist die Kritik daran nicht neu. So wurde immer schon die Aussagekraft bezweifelt, wenn zwar die Zahl der Infizierten pro 100.000 Einwohner in einem Sieben-Tages-Zeitraum erhoben wird, aber keine Vergleichszahlen zu einer Einordnung danebenstehen, wie beispielsweise die Zahl der im selben Zeitraum Getesteten.
Günther M. Ziegler, Präsident der Freien Universität Berlin und seines Zeichen Mathematik-Professor, hat auf diesen Fehler bereits im Frühjahr dieses Jahres im FORUM-Interview hingewiesen, gleichzeitig aber den Inzidenzwert als eine Orientierungsmarke rein mathematisch gelten lassen. „Der Sieben-Tage-Inzidenzwert ist signifikant und nicht nur ein zufälliger kleiner Bevölkerungsanteil. Und der Inzidenzwert ist ein wesentlicher Anhaltspunkt, für die innerhalb absehbarer Zeit zu erwartende Belastung oder Überlastung von Krankenhäusern und in der Folge deren Intensivstationen".
Damit verweist Ziegler bereits im Februar, mitten im Lockdown, auf einen entscheidenden Faktor, der in der aktuellen Diskussion eine Rolle spielt, nämlich die sogenannte Hospitalisierung, also die Frage, wie viele an Corona erkrankte Menschen mit schweren Verläufen im Krankenhaus behandelt werden müssen, sei es stationär oder auf Intensivstation. Eine der Hauptbegründungen für Lockdown-Maßnahmen war es schließlich, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern.
Inzwischen haben sich die Rahmenbedingungen für die Beurteilung von Entwicklungen verändert. Der Anteil vollständig Geimpfter nähert sich bundesweit der 50-Prozent-Marke, das Saarland und Bremen liegen als erste Bundesländer bereits darüber. Dazu kommen die nach einer Infektion Genesenen. Da vor allem auch die besonderen Risikogruppen weitgehend durchgeimpft sind, hat die Zahl schwerer Verläufe deutlich abgenommen.
Hinzu kommt, dass sich nach Angaben des Robert-Koch-Instituts vor allem Unter-30-Jährige mit der Delta-Variante infizieren, allerdings würde der Verlauf der Krankheit zu 90 Prozent mild verlaufen, ohne Krankenhausaufenthalt. Damit wird die Gefahr einer möglichen Überlastung des Gesundheitswesens deutlich geringer.
Auch deshalb hat RKI-Chef Lothar Wieler in einem internen Positionspapier eine Neuorientierung gefordert. Zukünftig soll neben dem Inzidenzwert die Hospitalisierung als Maßstab für schwere Verläufe herangezogen werden. Damit hätte man einen realistischen Wert, wie gefährlich welche Corona-Mutante tatsächlich ist. Diese Formel, die nun auch im Robert-Koch-Institut angekommen ist, wird im Übrigen bereits seit Monaten von Ärzten, Virologen und Mathematikern regelmäßig eingefordert.
Die Politik, vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn, reagierten innerhalb von nicht mal 24 Stunden auf diese Idee. Beide erklärten blitzschnell, dass die bisherige Berechnungsformel zum Inzidenzwert keinesfalls zur Disposition steht, ganz in Gegenteil sei „dies ein verlässlicher Wert, der Sicherheit und Orientierung gibt", so Jens Spahn. Die Eile zum Widerspruch gegen eine Neuberechnung kommt nicht überraschend, geht es doch mitten im Wahlkampf gerade für die Union um Glaubwürdigkeit. Da rückt man nicht so einfach von etwas ab, das sich derart eingebürgert hat – und zudem in Gesetzesform (Bundesnotbremse) zum Maßstab für Maßnahmen geworden ist.
Die Menschen könnten sich, so die Befürchtung, fragen, ob sieben Monate Homeschooling und Homeoffice, Schließung von Geschäften, Verbot von Unterhaltung, Kunst, Volksfesten oder Sport tatsächlich angemessene Maßnahmen waren. Auch wenn es gute Gründe aufgrund der Impffortschritte gibt, bisherige Grundlagen noch einmal neu zu überdenken, ist jedem Wahlstrategen klar, dass bei diesen Themen Befindlichkeiten und Emotionen mehr durchschlagen als differenzierte Argumente durchdringen können.
Dieser Spagat wird in den Worten des Sprechers von Gesundheitsminister Jens Spahn eindrucksvoll klar: „Wenn wir die epidemiologische Lage beurteilen wollen, brauchen wir eine Reihe von Parametern, und der Sieben-Tage-Inzidenzwert ist eines der hauptausschlaggebenden Kriterien" – auch wenn dessen Bedeutung mit zunehmender Impfquote abnehmen wird. Krankenhäuser sollen nun detaillierte Daten über Patienten liefern, um verlässliche Grundlagen zu haben. Jedenfalls bleibt die Abwendung einer drohenden Überlastung des Gesundheitswesens weiterhin klares politisches Ziel. Wobei unter Virologen unstrittig ist, dass es mit weiteren Impffortschritten eine Abkopplung von Inzidenz und Schwere der Verläufe geben wird. Allerdings bleiben eine Reihe von Faktoren derzeit unklar. Einer davon betrifft die Entwicklung der Delta- und weiterer Varianten. Dass das Virus weiter mutieren wird und neue Mutationen tendenziell gefährlicher sind, ist erwartbar. Zum anderen ist – logischerweise – noch wenig über Langzeitwirkungen von Corona-Infektionen bekannt.
Für den Herbst zeichnet sich jedenfalls ab, dass je nach Entwicklung und einer möglichen weiteren Infektionswelle die Bundesnotbremse in der bekannten Form kaum noch Anwendung finden dürfte. Zumindest werden die dort genannten Grenzen für Maßnahmen nicht mehr automatisch und nur an der Sieben-Tages-Inzidenz ausgerichtet sein können.