2020 hat Björn Swanson die Leitung des „Golvet" an seinen Chef de Partie abgegeben, und Jonas Zörner sorgte in kürzester Zeit dafür, dass der Guide-Michelin-Stern erneut hoch über Berlin erstrahlt.
Ein bisschen erhaben darf es sich schon anfühlen, wenn man in nur 45 Sekunden Lebenszeit mit dem gläsernen Fahrstuhl über die Dächer Berlins schwebt. Es geht in Stockwerk acht zu Stern und blauer Stunde, die sich gleich in eine Sommernacht ergießen wird. Kurz nach der Schwelle ins neue Millennium fand in der „Potse" 58 Night Clubbing statt. Wo früher im „40 Seconds" rhythmisch ein Dutzend Mondjahre die Nacht durchtanzt wurden, findet seit 2017 Fine Dining statt. Unter der Ägide des Berliner Avant-Maître Björn Swanson mit amerikanisch-schwedischen Wurzeln katapultierte sich das Restaurant „Golvet" sternschnuppenschnell in den Guide-Michelin-Himmel. Kein Wunder, auf 32 Metern ist es der höchst gelegene Sternetempel dieser Stadt. Ein bisschen Bodenhaftung darf man im „Golvet" – schwedisch für Boden – durchaus verlieren: genussverzückt abtauchen und doch ganz in der Gegenwart verweilen. So heißt auch das Menü-Bühnenstück, das vom neuen Hausherren Jonas Zörner als Sieben-Akter kredenzt wurde. Seit Swanson ihm – seinem talentierten Chef de Partie – 2020 die Regie übertragen hat, hatte der sich in nur sechs Wochen die Sternblume flugs wieder neu erkocht. Stolz ist der mit seinen 27 Jahren jüngste Sternekoch Berlins dabei nicht nur auf sich alleine: „Im Team akkurat ständig neue Wege zu gehen und dabei unsere Gäste glücklich zu machen ist der größte Lohn, den man ernten kann", hörte man ihn geschliffen und zumeist in Wir-Form sagen.
Die gute Chemie und das Zusammenspiel des internationalen Kernteams haben sich nun mal bewährt. Den Stern hätte er ohne sein Team nicht in dieser Vitesse geholt. „Bei unseren Kreationen bin ich offen für alle Vorschläge", sagt der Executive Chef. Jeder im Team habe vom Patissier bis zum Saucier seinen festen Arbeitsbereich. Am Ende füge er dann alle Impulse zu einem Bild zusammen und elaboriere eine Essenz für die Saison-Karte. „Wir schreiben Fine Dining ein Stück um. Wir sind lässig und casual, aber sehr professionell in allen Feldern – ohne Dogma. Ein Stern ist ein Ziel, dem man sich stellen muss, ihn in der Gegenwart zu halten, ist täglich unser nächster Schritt."
Neben filigraner Textur und Aromen liebt Zörner Geometrisches
Treten wir also ein ins Zörnersche Kochkaleidoskop, um es uns fürs fein-getunte Zungenspiel an einem der 80 Plätze bequem zu machen. Andreas Andricopoulos, der zweite Gastgeber und Mann der ersten „Golvet"-Stunde, begrüßt und eskortiert uns zum Tisch. Der Bartender zählt zur Mixologie-Cremegarde Deutschlands. In diesem Kulinariker-Kubus herrscht gläserne Transparenz. Vorbei am Weinschrein mit 222 Weineinheiten läuft man fast in die offene Küche hinein. Vom ringförmigen Bar- und Dinercounter kann man den Golvets beim Sautieren, Marinieren oder Blüten-vom-Stängel-Zupfen direkt auf die Finger schauen. Wie in einem offenen Uhrwerk rotieren sie rund um ihren Zörner. Die Stimmung: hochkonzentriert, aber locker.
Der Blick über Berlins urbane Topografie ist von jedem der weichen Ledersessel frei verfügbar. Das Panorama spannt sich wie ein gut sitzender Gürtel rund um den Gastraum. Der gibt sich modern. An der Wand Black-and-White-Graffiti. Die Musik: Hip-Hop. Kein Tuch ziert den Tisch. Die roten Neonlichtstäbe an den Fensterzargen spiegeln sich im Rotweinglas. Der Blick ins Menü ist ebenso prägnant wie interpretierbar.
Los geht’s mit dem Amuse-Gueule und dem Auftritt einer Sonnenblume. Die steht nicht nur dekorativ am empfangenden Winkel des Bar-Counters, sondern liegt von der Wurzel bis zu Blüte dekomponiert als fermentiertes Sonnenblumenkern-Miso-Mousse im Schälchen. Weitere Kerne betten sich karamellisiert neben einem einzeln drapiertem Blütenblatt. Drumherum eine Apfel-Topinambur-Vinaigrette mit Staudensellerie-Würfelchen, obenauf ein Hauch Belper-Knolle-Geraspel mit Kurkuma-Öl. Nebenan ruht die gelbe, lacto-fermentierte Kirschtomate mit Buffalo-Mozzarella-Sphäre in einer Brickteig-Tartelette. Neben Knofi wird sie mit Mittelmeerkräutern mariniert, die neuerdings wie auch die Tomätchen auf dem restauranteigenen Dachgarten wachsen. Der Fond wird no-wastig als Shot im Schnapsglas-Sockel dazu gereicht.
Spannend auch der stilisierte Bonsai-Caesar-Salat auf einem Krupuk-Chip aus Tapioka und Salatmatte. Die aus fermentierten Auberginen gefakte Sardelle wird ebenso wie die Eigelb- und Parmesancreme als Klecks neben den ausgestochenen Römersalatherzchen drapiert. Der Kapernstaub ziert homöopathisch. Weitere kleine Sommerinseln gilt es mit der Zungenspitze zu ertasten. Eines ist vom ersten Aroma-Ausflug an klar: Die Jungs wollen spielen, aber nichts ist hier beliebig. So zählt zu Zörners Signature „einfach" mal das Brotgesteck: eine Kümmelseele vom Domberger Brotwerk und Wasabi-Sesam-Cracker trifft warm und knusprig vorgeschnitten auf gesalzene Karamellbutter mit Schnittlauch – äquivalent zur „Beurre Café de Paris". Dazu noch die Berliner Späti-Butter mit Lardocreme, Trockentomate und gerösteter Rapssaat.
Neben der filigranen Textur und den Aromen liebt Zörner das Geometrische. Das beweist der erste offizielle Gang „Wagyu". Hauchdünn geschnitten liegt die sehr lange, sehr zart gepökelte Zunge der japanischen Rinderrasse auf einer Cremeux von gegrillten Austern. Mit dem Carpaccio von Radieschen und Dill-Sud bildet sie einen akkuraten Kreis. Obenauf immer wieder Blüten. Den Lockdown hat das „Golvet"-Team für Ausflüge genutzt. Zum einen, um die Produzenten wie den Brandenburger Binnenfisch-Zulieferer „25 Teiche" für Saibling, Forelle oder Stör persönlich zu besuchen, zum andern für Streifzüge durch den Forst. So finden sich herbstliche Fundstücke wie Steinpilze, eingeweckt, gesalzen und oxidiert, als dunkles Waldpilz-Consommé auf dem nächsten Sommerteller. Durch die French-Press gedrückt, fließt es über den „Wald" mit geliertem Mischpilzsalat und Ziegenkäse. Zwei blattartige Chips aus Cassis und Fichtensprossenpulver liegen dekorativ und essbar in Moos.
Neue kulinarische Kreationen für den Herbst entstehen
Ein Beispiel für das Spiel zwischen echt und falsch bietet der Kaviar, der einmal als Osietra (Imperial Caviar Berlin) auf dem Kartoffelrisotto mit der Säure von Kumquat- und Liebstöckelgel und der Würze von Merguez-Creme eine mutige Synergie eingeht, ein anderes Mal als Fake-Caviar-Refresh aus der Yuzu mit einem Punch aus Gin, Mandelmilch, Wassermelone, Gurke, Estragon, Weißwein, Sauerbier und Eukalyptus gereicht wird.
Was wäre all der Zungentanz ohne Fine-Beverage-Gesang? Den liefert der chilenische Sommelier José Munoz Vinagre. Bescheiden aber spürbar verknallt in seine Auswahl, erzählt er wie ein Troubadour zu jedem Tropfen eine Geschichte. Schon der Einstieg mit einer klassischen Auslese (2018) vom Bio-Moselwein Wagner von Wohlgemuthheim (Familienbetrieb seit 1719) mit einer Geschmacks-DNA von Birnen-Quitten-Zitrone und „Blut der Erde getränktem Handabdruck" auf der Etikette, verspricht sommerliche Leichtigkeit.
Vinagre integriert die Neue Welt, das Land seines Vaters, der als Maschinenteil-Exporteur viel mit Deutschland kooperiert hatte. Fließend Deutsch lernte er im Instituto Aleman, den Vino Tinto kenne er vom heimischen Tisch: „Bei uns gehörte der als was Kleines zum Verdauen nach fettigem Essen immer dazu."
Neben einem Herbstcuvée mit Blaufränkischer Traube von „Schöneberger" zum Pilzgericht, der sich als „Etappenwein" von dunkler Brombeere zur grünen Paprika entfaltet, schließt sich der Weinreigen 17,5-prozentig. Der Dessertteller von der fermentierten Erdbeere mit Sauerampfer-Buttermilch und Schwarzbohne trifft auf einen vom Trester-Brand gestoppten „stummen" Süßwein „MacVin du Jura" mit Spätburgunder Pinot-noir-Traube.
Im September kommt ein neues Menü auf die Golvet-Karte. Schon jetzt entwickelt Zörner im alchimistischen Kreis seiner treuen Begleiter neue kulinarische Spielinseln. Bis dahin bleiben wir gerne in seiner Gegenwart.