Sie revolutionierten den Tanz - mit Bewegungschören oder Soli, entwickelten mitunter auch in Bars und Nachtclubs ihre Kunst weiter. Mal historisierend, mal politisch. Das Kolbe-Museum erinnert an die Tänzerinnen der 1920er Jahre.
Es waren Jahre des politischen, gesellschaftlichen und individuellen Aufbruchs. Die Ära der Weimarer Republik probte Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch eines maroden Kaiserreichs. Keine anderthalb Dezennien blieben bis zur braunen Diktatur mit ihrem verheerenden Weltenbrand. So wurden die Weimarer Jahre eine Phase äußerster Kreativität in der Kunst und auch im Tanz. Hauptsächlich Frauen bestimmten seine Entwicklung in die Moderne, nach den Altvorderen der Generation Isadora Duncan nun ihre Nachfolgerinnen, die unabhängig von ihr zu eigenem Ausdruck fanden und deren Bewegung man unter dem Begriff Ausdruckstanz zusammenfasst.
Von gegliederten Bewegungschören bis zum solistischen Podiumstanz reichte dessen Palette. Was im Theater an ein Ensemble, eine Handlung gebunden war, strebte im Podiumstanz demonstrative Individualität an. Sich absetzen von Anderen, die eigene Bewegungs- und Mitteilungsweise finden, das war die Devise. Wer gesehen werden wollte, ging nach Berlin, ins Zentrum abendlicher Vergnügungen und nächtlicher Ausschweifungen. Für alle schien Platz, ob in privaten Theatern oder frivolen Etablissements.
Zurück zur Natur - viele tanzten nackt
Elf bedeutenden Tänzerinnen jener Zeit widmet das Georg Kolbe Museum unter dem programmatischen Titel „Der absolute Tanz" eine repräsentative Schau aus Leihgaben, wie man sie so gebündelt wohl nicht mehr zu sehen bekommt. Den Rahmen schuf Ulla von Brandenburg, eine Malerin, Grafikerin und Installationskünstlerin mit starker Affinität zum Theater. Sie richtete Kolbes einstiges Atelier nicht nur zum rundum verhängten, von weißen Objekten gegliederten Raum mit entsprechender Performance ein, sondern ordnete in den Ausstellungsräumen auf zwei Ebenen jeder der Tänzerinnen eine Farbe zu, auf der sich die Exponate korrespondierend entfalten können. Zu den in Foto, Zeichnung, Plastik fixierten Formen, Moment einer tänzerischen Bewegungsfolge, gesellt sich der grundierende Farbwert als mitgestaltendes Element.
Schon der Eintrittsbereich weist auf die enge Verbindung von Tanz und bildender Kunst hin, das gegenseitige Fasziniert sein. Neben Kolbes „Javanischer Tänzerin" zeigt er die Blätter seiner Mappe „Eine Tänzerin", aquarellierte Federzeichnungen von Ausdrucksstudien, bodennah, hexenhaft, leidend, in Shiva-Pose oder wunderbar plastisch. Wie weitgespannt der Kosmos jener „Tänzerinnen der Weimarer Republik", dies Untertitel der Ausstellung, ist, dokumentiert bereits der erste Raum. Gelb grundiert präsentiert sich hier in Celly de Rheidt, mit Jahrgang 1889 die Älteste, eine Pionierin des Nackttanzes, wie er unter dem Namen „Schönheits-Tanz" Sensation machte, etwa mit gewagten Darstellungen wie „Opium-Vergiftung" und „Der Vampir". Als Grotesktänzerin ging die wenig ältere Valeska Gert in die Tanzgeschichte ein, radikaler als de Rheidt und kompromissloser in ihren so exzentrischen wie süffisanten Solo-stücken um Dirnen, Geburt, Liebe, Tod. Darin verband sie Schauspiel, Wort und Mimik zu provokanten Parodien, anregend für Fotografinnen wie Suse Byk oder Malerinnen wie Jeanne Mammen.
Auf orangerotem Grund hängen fast verschwebende Federzeichnungen von Charlotte Baras Tanz; grün unterlegt zeigt sie ein abstrahierender Linolschnitt in Schrittstellung; und Heinrich Vogeler hielt die einst sehr populäre Interpretin in einer ihrer ausdrucksvollen Sakralposen fest. Hüllenlos machte Claire Bauroff, ein eher athletischer Frauentyp, von sich reden, in den Aktfotos von Trude Fleischmann oder als barbusige Amazone bei Steffi Brandl. Wie viele ihrer Kolleginnen gab sie Soloabende und wirkte in Revuen etwa des Admiralspalasts mit. Skandalträchtiger verlief die hier auf Grau illustrierte Karriere der Anita Berber. Ausgebildet in rhythmischer Gymnastik, Schauspiel und Tanz gelang ihr der Aufstieg zur „Göttin der Nacht", mit Auftritten in Bars und Nachtclubs, mit Alkohol – und Drogenexzessen. Kurz tanzte sie bei Celly de Rheidt, demonstriert breitbeinig im Foto als „Eton-Boy" in Hose und mit Melone weibliche Emanzipation. Die gemeinsam mit ihrem Partner Sebastian Droste zelebrierten „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase" wurden legendär, erhalten blieben Schnipsel der Filme, in denen sie mitwirkte, so bei Fritz Lang. Eine Szene aus dem Stummfilm „Unheimliche Geschichten" vermittelt einen bewegten Eindruck der zierlichen Tänzerin.
Sechs in ihren künstlerischen Ansichten und Betätigungsfeldern ganz unterschiedliche Vertreterinnen der Weimarer Tanzmoderne bündelt das Untergeschoss des Museums. In Hertha Feists Ausbildung mischen sich Frauengymnastik nach Mensendieck, Rhythmik nach Rudolf Bode, kurz Schönheits-Tanz bei Olga Desmond und schließlich die Raumlehre von Laban. Die Studentinnen ihrer Berliner Schule tanzten nackt, ganz im Sinn der Lebensreformbewegung, in der noch Rousseaus Ruf „Zurück zur Natur!" nachhallen mag. Feist wirkt in Labans Aufführung „Don Juan" mit, wird dabei und in vertiefenden Aquarellen ihrer Schülerin Thea Schleusner als feinlinige Gestalterin überliefert. Sie choreografierte Laienchöre in der Volksbühne, Oper für das Pergamon-Museum, tanzte auf den Bayreuther Festspielen. Auch Vera Skoronel, mit Jahrgang 1906 die jüngste der vorgestellten Tänzerinnen, dirigierte Arbeiterlaienchöre an der Berliner Volksbühne. Sie dürfte die eigenwilligste Choreografin gewesen sein: Ihr geometrischer Bewegungsstil mit winkligen, kantigen Armformen sucht nach der körperlichen Essenz des Tanzes, losgelöst von inhaltlichen Aussagen. Nach dem Studium bei Mary Wigman war sie, 18-jährig, Deutschlands jüngste Ballettleiterin. Ihre tänzerischen und choreografischen Visionen hielt sie in Zeichnungen fest. Ein früher Tod mit 25 Jahren beendete die hoffungsvolle Laufbahn.
„Tänze des Lasters und der Ekstase"
Auch Berthe Trümpy, mit der Skoronel gemeinsam eine innovative Schule nebst Gruppe in Berlin leitete, war Schülerin von Wigman. Fotos zeigen die Mädchen der Truppe, wie sie 1925 den Berliner Funkturm erklettern. Ein moderner Tänzer ohne geistige Kultur sei eine Unmöglichkeit, postuliert Trümpy. Sinnierend hält Steffi Brandl sie im Porträt fest. Zwei Tänzerinnen mit tragischem Schicksal folgen beim Rundgang. Oda Schottmüller lernte, vielseitig begabt, in der Trümpy-Skoronel-Schule und studierte gleichzeitig Bildhauerei. Sie entwarf markante Holzmasken und Kostüme, debütierte im Theater am Kurfürstendamm, gastierte international. Als mutmaßliches Mitglied der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle" wurde sie von den Nazis verhaftet und 1943 hingerichtet. „Henker" und „Der Gehenkte" hatte sie ahnungsvoll zwei ihrer Choreografien betitelt.
Das gleiche Schicksal ereilte Tatjana Barbakoff, die russische und chinesische Tänze zeigte. Ihr ausdrucksstarkes Gesicht inspirierte Fotografen, Christian Rohlfs malte sie mehrfach, sie selbst fühlte sich den blockhaften Skulpturen Ernst Barlachs verbunden. Im französischen Asyl wurde sie von den Nazis aufgespürt und 1944 in Auschwitz ermordet. Mehr Glück hatte Jo Mihaly, obwohl sie, Absolventin der Trümpy-Schule, mit eindeutig sozialkritischen Solostücken hervortrat: „Der Arbeiter" mit Bezug auf Käthe Kollwitz „Mütter", „Vision eines Krieges". Suggestiv hat sie Sasha Stone konterfeit, eine Filmszene überliefert sie bewegt und rundet den Eindruck einer tanzend kommentierten Zeit ab.