Yayoi Kusama hat sich mit ihrer scheinbar verspielten Kunst international durchgesetzt. Dahinter steht ein über 80-jähriger Schaffens- und Leidensweg. Im Berliner Gropius Bau läuft momentan eine große Retrospektive.
In jeder Kunstgattung, zu jeder Zeit, gibt es Ausnahmekünstler, die Außergewöhnliches schaffen, weil sie die Welt anders wahrnehmen als normale Menschen. „Normalität (bezeichnet) erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten im Gegensatz zu unerwünschtem, behandlungsbedürftigem, gestörtem, abweichendem Verhalten", sagt das Spektrum-Lexikon der Psychologie dazu. Die japanische Ausnahmekünstlerin Yayoi Kusama ist ein solcher behandlungsbedürftiger Fall, hat sie sich doch 1977 selbst in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Unnormal sind ihre Wünsche für eine bessere, liebevollere Welt jedoch nicht.
Yayoi Kusama wird 1929 in Matsumoto geboren. Schon als Kind entwickelt sie Halluzinationen: „Eines Tages, als ich eine rote geblümte Tischdecke betrachtete, wandte ich meine Augen zur Decke und sah das gleiche rote Blumenmuster überall, sogar auf den Fensterscheiben und Rahmen. Der Raum, mein Körper, das ganze Universum war davon erfüllt. Dies war keine Illusion, sondern Realität." schrieb sie in ihrer Autobiografie „Die Odyssee meiner kämpfenden Seele".
Seit Jahrzehnten sind die dichten „Polka dots"-Punktmuster Kusamas künstlerisches Markenzeichen. Sie verzierte damit nicht nur ganze Räume und Modekollektionen, sondern bemalte in Performances auch Menschen. Noch bevor von immersiver Kunst die Rede war, hatte die psychotische Künstlerin sie geschaffen. Wenn Kusama – selbst mit Punkten umhüllt – in ihren Installationen stand oder lag, verschmolz ihr Körper mit der Skulptur. „Infinity" – Unendlichkeit, dieser Begriff findet sich in vielen ihrer Werktitel. Die Realität löst sich auf, optische Effekte treten ein, und der Betrachter wird eins mit dem Universum.
Dieses Gefühl lässt sich nun in der großen Retrospektive im Berliner Gropius Bau nachempfinden. In 19 Räumen werden an die 300 Arbeiten der nach wie vor akribisch schaffenden 92-Jährigen gezeigt. Ein wunderbares Erlebnis, das gerade nach emotional ausgetrockneter Pandemie-Zeit wie eine herzliche Umarmung wirkt. „A Bouquet of Love – I Saw it in the Universe" hat Yayoi Kusama die Schau selbst überschrieben. Man soll sich darin verlieren, es darf einem fast schwindlig werden.
Acht Installationen rekonstruiert
Dazu hat die Direktorin und Kuratorin Stephanie Rosenthal acht historische Inszenierungen „so gut wie möglich" rekonstruiert. Sie geht chronologisch an die bis zu 80-jährigen Werke heran und beginnt mit der ersten Ausstellung in Kusamas Heimatstadt Matsumoto. Schon dort, 1952, wird die Obsession sichtbar; die junge Künstlerin nimmt eine enge Hängung von 270 Arbeiten vor, wodurch der Betrachter in ihre Welt eintauchen kann.
Bald wird es der jungen Frau im patriarchalischen Nachkriegsjapan zu eng. Acht Jahre lang bekniet sie ihre Eltern, ihr die Einwilligung für ein Ausreisevisum in die USA zu geben, zieht 1957 nach New York und taucht in die Szene ein. In ihrem Atelier arbeitet sie – an Hunger leidend und das Zeitgefühl verlierend – bis zur Erschöpfung. Doch sie setzt sich durch, in einer Branche, die von weißen amerikanischen Männern dominiert wird.
Andy Warhol war begeistert
In den 1960er Jahren entstehen Softskulpturen – phallusförmige. Das passt natürlich hervorragend in die Zeit der sexuellen Revolution. Bei Yayoi Kusama ist es jedoch eine weitere Selbsttherapie, ein Abarbeiten an traumatischen Erfahrungen aus dem eigenen Elternhaus. Mit der „Aggregation: One Thousand Boats Show" kreiert sie einen aufsehenerregenden Erlebnisraum in der New Yorker Gertrude Stein Gallery. Dazu setzt sich die Künstlerin nackt auf ein mit Stoffphalli gefülltes Ruderboot. Auch Andy Warhol kommt vorbei und ist begeistert; mit dem Minimalismus-Künstler Donald Judd war die Japanerin eng befreundet.
Selbst in Deutschland wird man auf die Exotin im Kimono aufmerksam, und sie erhält 1966 in Essen die erste Einzelausstellung. Gleichzeitig entwickelt sie eine Variante der „Infinity Rooms": Spiegelräume, die sich unendlich selbst reflektieren – ein Effekt, den sie bis heute benutzt. Auch für den Gropius Bau hat sie einen eigenen Infinity Mirror Room geschaffen. Sein philosophischer Titel lautet: „The Eternally Infinite Light of the Universe Illuminating the Quest for Truth" (Das ewig unendliche Licht des Universums erhellt die Suche nach der Wahrheit). Der Besucher soll sich in diesem Raum selbst auflösen.
Ein Höhepunkt dieser Kunstform ist ihr „Narcissus Garden" auf der Venedig Biennale 1966. Zwar war sie als Künstlerin nicht eingeladen worden, doch über ihre Zusammenarbeit mit Lucio Fontana erhielt sie die Erlaubnis, auf der Wiese vor dem italienischen Pavillon 1500 Spiegelkugeln auszulegen. Die Besucher waren begeistert und rissen der Künstlerin im goldschimmernden Kimono die Kugeln aus der Hand, die sie für zwei Dollar das Stück verkaufte. Die Idee eines vergleichsweise günstigen Objekts mit begrenzter Auflage für eine breitere Käuferschaft kopierten später viele Ateliers. Die Biennale-Leitung verbot ihr jedoch die Kommerzialisierung – mit der Folge, dass die verbleibenden Kugeln vom Rasen geklaut wurden. 1993 bespielte Yayoi Kusama dann ganz offiziell den japanischen Pavillon.
Kusama malte bis zum letzten Tag für Berlin
Dazwischen lagen schwierige Jahre: Ihr Engagement in New York – mit provokativen Nackt-Performances in der Stadt und orgiastischen Happenings in ihrem Workshop, Anti-Vietnamkriegs-Demonstrationen und einer Modelinie, die bei Bloomingdale’s verkauft wurde –
forderte seinen Tribut. Psychisch ausgelaugt kehrt sie Anfang der siebziger Jahre nach Japan zurück, fasst jedoch nicht Fuß in ihrer modernisierten und technologisierten Heimat. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich, und sie beschließt, im geschützten Raum einer Tokioter Klinik zu leben.
Rund zehn Jahre später entdecken jüngere Kuratoren ihr lebensfrohes Werk. Es gibt eine Retrospektive in Kitakyushu und 1989 eine in New York. Kusama malt inzwischen wieder, mit Acryl auf Leinwand. Der Abschlussraum in der Berliner Ausstellung ist mit „My Eternal Soul" (Meine ewige Seele) überschrieben; mit der engen Hängung von biomorphen Motiven kehrt sie quasi an ihren Anfang zurück. Ursprünglich sollte die Serie hundert Arbeiten umfassen, nun sind weit über siebenhundert daraus geworden. Die Kuratorin berichtet, dass Kusama bis vor wenigen Wochen daran gearbeitet und sich außerordentlich auf „Berlin, Berlin" gefreut habe.
Obsessive Muster verschlingen den Besucher und ziehen ihn in das mysteriöse Universum der Künstlerin. Yayoi Kusama nennt es einen „Gruß in die Welt" aus ihrer selbst gewählten Isolation und verbindet mit den Gemälden einen Wunsch nach Heilung. Nicht nach persönlicher Genesung – damit hat sie sich schon lange abgefunden – sondern nach einem Ende der Pandemie.