Vor 110 Jahren starb Carl Friedrich Stangen und vor 50 Jahren Dr. Hubert Tigges, beides Pioniere der modernen Pauschalreise in Deutschland. Die ersten Pauschalreisen von damals haben mit den heute industriell gefertigten Urlaubsreisen aber wenig zu tun.
Der Brite Thomas Cook gilt als Erfinder der Pauschalreise, indem er mehrere Leistungen wie Transport, Unterkunft und Verpflegung zu einem Paket bündelte und bereits 1865 Reisen nach Amerika, Afrika und Asien in seinem Programm anbieten konnte. Deutschland dagegen, das später zum „Reiseweltmeister" aufsteigen sollte, verharrte in den Strukturen der wilhelminischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu den weltoffenen Briten blieb man lieber zu Hause. Außerdem konnten sich nur gut betuchte Bürger und der Adel eine Urlaubsreise leisten. Man fuhr entweder in die Sommerfrische oder zur Kur. Nur wenige machten eine Bildungsreise nach Italien, Griechenland oder in Ausnahmefällen nach Ägypten.
Es war Carl Friedrich Stangen, der sich vermutlich die Idee von Thomas Cook abgeschaut hatte, als er 1868 in Berlin ein Reisebüro eröffnete und nach britischem Vorbild Leistungen zu einem Produkt zusammenschnürte. Mit seinen zum Teil abenteuerlichen Reisen sprach er die Oberschicht im Lande an und hatte großen Erfolg mit seinem Angebot. 1905 verkaufte er das „Carl-Stangen’s Reisebüro" an die Reederei Hapag.
Stangen verkaufte an Reederei Hapag
Ganz anders verlief der Weg von Dr. Hubert Tigges. Er war Volkshochschuldozent im Bergischen Land und überzeugter Europäer. 23 Jahre nach dem Verkauf von Stangens Reisebüro gründete er 1928 in Wuppertal die „Dr. Tigges Fahrten", das erste Pauschalreiseunternehmen moderner Prägung mit Prospekten, Reiseleitern und einer klaren Struktur. Deshalb gilt Tigges häufig als Erfinder der Pauschalreise in Deutschland. Hier muss er jedoch Carl Friedrich Stangen den Vortritt lassen, aber mit der Gründung seines Unternehmens bekam die Pauschalreise einen ganz neuen Stellenwert. Nicht die nur die Oberschicht, sondern auch Normalverdiener konnten sich eine Reise mit den „Dr. Tigges Fahrten" leisten, was manchmal zu seltsamen Ausprägungen führte.
Reinhold Tigges, der Sohn des Firmengründers, schrieb dazu in seinen Erinnerungen: „Am Abend des 24. Mai 1928 staunten die Passanten am Gare du Nord in Paris nicht schlecht, als eine Gruppe eher seltsamer Gestalten ziemlich eilig, aber offensichtlich fröhlich auf einen der Zugänge der Metro zustrebten und schnell darin verschwanden. Die Männer meist in ausgebeulten Kniehosen, die Frauen in ebenso wenig kleidsamen Lodenmänteln oder -jacken und noch weniger kleidsamen derben Schuhen. Alle trugen große Rucksäcke auf ihren Rücken, bei einigen thronten noch Kochlöffel obenauf und Schöpflöffel baumelten an den Seiten". Es waren die ersten Pauschaltouristen, die auf diese Weise Paris erkundeten. Und das auch noch für wenig Geld.
Dr. Hubert Tigges, der als Volkshochschuldozent seine Schüler mit der europäischen Idee vertraut machte, wollte als überzeugter Humanist seinen Mitbürgern andere Länder näherbringen. Sie sollten das einfache Leben kennenlernen, und er war überzeugt davon, dass nur das praktische Erleben der Völkerverständigung dienen könne. Und der Erfolg gab ihm Recht. Bereits 1933 brachte Tigges einen mehrseitigen Faltprospekt auf den Markt, in dem die damals touristisch interessantesten Länder vertreten waren. Auch als Reiseunternehmer blieb er den Prinzipien seiner Volkshochschulzeit treu. In dem genannten Prospekt heißt es: „Einstellen auch der kleinsten Fahrten in den europäischen Zusammenhang. Freude durch Gemeinschaft und wissenschaftliche Vertiefung des Fahrterlebnisses durch vorbereitende Winterarbeit und Zusammenkünfte vor und nach der Fahrt."
Am Anfang spielten Bus und Bahn eine dominante Rolle
Tigges sprach bewusst auch mittlere Einkommensschichten an. Eine zweiwöchige Italienfahrt bis nach Capri war schon für 188 Reichsmark zu haben, was sich durchaus viele Bildungsbürger leisten konnten. Auch die Seminare im Winter wurden von den Teilnehmern intensiv genutzt. Es ging fast zu wie in der Schule. Wer sich nicht rege beteiligte, durfte beim nächsten Mal nicht mitfahren, so jedenfalls wurde es kolportiert. Aber Ausfälle scheint es kaum gegeben zu haben. Im Gegenteil, so der Sohn Reinhold Tigges: „Die Seminare haben sich dann im Winter durch Vorträge fortgesetzt, wobei die Reiseleiter eine Hauptrolle übernahmen, die ja in dieser Jahreszeit nichts zu tun hatten."
Auch Johannes Hammann, einer der engsten Mitarbeiter von Hubert Tigges und gleichzeitig Chefreiseleiter, betont die besonderen Erwartungen der damaligen Urlauber: „Am Aufenthaltsort selbst waren die gemeinsamen Exkursionen und Besichtigungen wesentlicher Bestandteil des Urlaubs. Dass man seine kostbare Urlaubszeit einzig damit verbrachte, sich an den Strand zu legen, das gab’s eigentlich nicht. So kann ich nur sagen, wer damals mit uns reiste, war ausgesprochen interessiert."
Dem Zusammenhalt der Reiseteilnehmer diente auch die Hauszeitschrift „Die Fahrt", die den Gedankenaustausch fördern sollte. Der Gemeinschaftsgedanke war für Tigges außerordentlich wichtig. Für die sozial Schwächeren führte er eine gemeinsame Kasse ein, die dann einspringen sollte, wenn das Geld für die Reise nicht ganz reichte. In der Hauszeitschrift „Die Fahrt" ist dazu zu lesen: „Die Mitnahme von einem Dutzend Fahrtgenossen, die mangels Geldes seit Jahren nicht mitgehen können oder trotz aller Anstrengung noch nie auf Fahrt waren, sollen durch ersparte und gesammelte Taschengeldbeträge, von jedem nur einige Groschen, mit Beiträgen von 20 bis 50 Mark unterstützt werden". Abenteuerlich, verglichen mit der heutigen Zeit, waren die Transportmittel, die für die Auslandsreisen eingesetzt wurden. Am Anfang spielten Bahn und Bus eine dominante Rolle. Bei längeren Reisen wurde zwischendurch übernachtet, manchmal auch in Jugendherbergen. Mitte der 50er-Jahre begann eine neue Ära mit dem Einsatz von Flugzeugen. Jetzt waren auch weit entfernte Ziele, wie die Kanaren, zu erreichen. 1955 flog eine zweimotorige Vickers Viking nach Teneriffa mit Zwischenstopp in Sevilla und am zweiten Tag mit Zwischenlandung in Casablanca. Weitere Flugziele waren Marokko, Ägypten, Israel, das spanische Festland und auch Italien.
Mit den neuen Zielen stiegen auch die Teilnehmerzahlen rapide an. 1933 war die Zahl mit 660 Teilnehmern noch sehr überschaubar. Sechs Jahre später buchten 7.000 Bildungsbeflissene eine Reise bei den Dr. Tigges Gemeinschaftsfahrten.
„Dr. Tigges Fahrten" ist heute Teil der Tui-Tochter Gebeco
Inzwischen war mit den Carl Degener Reisen ein weiterer Pauschalreiseveranstalter auf dem Markt, der allerdings ein Konzept verfolgte, das mit Bildung kaum etwas zu tun hatte. Bei Degener ging es fast nur um Erholung und Abschalten vom Alltag, was 1939 immerhin 30.000 Buchungen einbrachte. Dann kam der Zweite Weltkrieg und damit vorerst das Ende der Pauschalreise. Aber bereits vorher hatten die Nationalsozialisten den Propagandawert von günstigen Reisen erkannt. Die Organisation „Kraft durch Freude" war von 1933 bis zum Ausbruch des Krieges mit Millionen Teilnehmern der größte Pauschalreiseveranstalter der Welt. Nach dem Krieg musste auch Dr. Tigges warten, bis das Geld wieder einen Wert hatte. Mit der Währungsreform 1948 kam der Neuanfang, wiederum mit großem Erfolg. In den Nachkriegsjahren waren die „Dr. Tigges Fahrten" der viertgrößte Pauschalreiseveranstalter auf dem deutschen Markt, bis das Unternehmen 1967 zunächst in die neu entstandene Tui in Hannover eingegliedert wurde und seit 1997 eine Marke der Tui-Tochter Gebeco in Kiel ist.
Damit verschwand endgültig der Reiseveranstalter vom deutschen Markt, der hierzulande die Pauschalreise eingeführt hatte mit dem Ziel, zur Völkerverständigung beizutragen. Mit der heutigen industriell gefertigten Pauschalreise wollen die Unternehmen in erster Linie Geld verdienen. Wenn damit auch noch zum Verständnis anderer Kulturen beigetragen wird, umso besser.