Weniger Abstimmende, dafür mehr Ältere und viele Wechselwähler – ein Rundblick über das Wahlvolk. 60,4 Millionen werden am 26. September über den künftigen Bundestag und damit auch über die nächste Regierung entscheiden. Noch sind 25 Prozent unentschlossen.
Woche für Woche stellen Meinungsforscher die Sonntagsfrage: Wem würden Sie Ihre Stimme geben, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre? Wir haben etwas anderes gefragt: Wer sind eigentlich „Sie"? Dazu haben wir uns die rund 60 Millionen Wahlberechtigten genauer angeschaut. Und bei den alten Klischees nachgehakt: Wählen Großstädter eher grün? Tendieren Arbeiter immer zur SPD? Und wen wählen eigentlich Kirchgänger?
Wer im nächsten Bundestag sitzt, entscheiden am 26. September schätzungsweise 60,4 Millionen Menschen. Die entweder vor Ort im Wahllokal ihren Stimmzettel ausfüllen oder ihn aus der Ferne per Brief schicken. Sie alle dürfen ihre Stimme abgeben – sind also deutsche Staatsangehörige und mindestens 18 Jahre alt. Gegenüber der letzten Bundestagswahl bedeuten gut 60 Millionen einen Rückgang, erklärt der Bundeswahlleiter Dr. Georg Thiel, der die Wahlen organisiert: 2017, als der Bundestag zuletzt gewählt wurde, durften 61,7 Millionen Deutsche mitbestimmen, wer sie vertritt. Wieso sind es diesmal weniger Wähler? Die Entwicklung geht mit der Alterung unserer Gesellschaft einher: Seit der letzten Bundestagswahl sind mehr Wahlberechtigte gestorben, als neue Wähler dazugekommen. Immerhin haben etwa 2,8 Millionen Jugendliche seit der letzten Bundestagswahl ihren 18. Geburtstag gefeiert – und dürfen dieses Jahr mitwählen. Als Gruppe der Erstwähler machen sie immerhin 4,6 Prozent aller Wahlberechtigten aus.
Beim Blick auf die Verteilung der Wähler nach Altersgruppen wird der demografische Wandel des Landes deutlich: In diesem Jahr stellen die Generationen ab 60 Jahren über ein Drittel der potenziellen Wähler (36,3 Prozent). Über die letzten drei Jahrzehnte hat sich die Ü60-Wählerschaft deutlich vergrößert: Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Dezember 1990 war nur jeder vierte 60 oder älter (26,8 Prozent). Bei den Wählern unter 30 ist der Trend dagegen umgekehrt: 1990 lag ihr Anteil noch bei 23,1 Prozent. Dieses Jahr ist er weit davon entfernt und liegt bei 14,4 Prozent.
Die alternde Gesellschaft wählt
Die zahlenmäßige Übermacht der älteren Generationen ist dabei nicht der einzige Grund für ihren Einfluss auf das Wahlergebnis. Vielmehr sind sie auch besonders wahlfreudig: Mit 81 Prozent hatte die Gruppe der 60- bis 69-Jährigen bei der letzten Bundestagswahl die Nase vorn in puncto Wahlbeteiligung. Zum Vergleich: Bei den 18- bis 30-Jährigen lag sie unter 70 Prozent.
Apropos Beteiligung: Seit bald zwei Jahrzehnten stagniert der Anteil der weiblichen Abgeordneten im Bundestag. Die letzte Wahl hat den Frauenanteil dann sogar verkleinert, was am Einzug der AfD in den Bundestag gelegen hat. Mit 10,6 Prozent Frauen hatte sie von allen Bundestagsfraktionen die wenigsten Kandidatinnen auf einen Bundestagssitz – und hat so den durchschnittlichen Frauenanteil im Bundestag deutlich gesenkt. Immerhin: Bei den Wählern – und Wählerinnen – liegen die Frauen vorn. Das Statistische Bundesamt schätzt, dass im September 31,2 Millionen Frauen ihre Stimme abgeben werden – und 29,2 Millionen Männer.
Eine ganz andere Annäherung an die Wählermillionen bietet ein Blick auf unsere Arbeitswelt – und die hat sich ebenfalls stark gewandelt. So ist zum Beispiel der Anteil an Arbeitern über die letzten Jahrzehnte immer kleiner geworden. Seit Mitte der 1990er-Jahre hat er sich nochmal halbiert: 2018 war nur noch jeder sechste Beschäftige Arbeiter. Demgegenüber stehen deutlich mehr Angestellte als je zuvor: 2018 waren das rund zwei Drittel aller Erwerbstätigen. Hat der Beruf denn überhaupt Einfluss darauf, wem wir unsere Stimme geben? Stimmen die Klischees von früher noch, wonach die SPD im Ruhrpott punktet und die Union vor allem auf dem Land? Ist die FDP noch die Partei der Zahnärzte und Rechtsanwälte, während die Grünen-Wähler gut ausgebildet in den Städten sitzen? Die Politikwissenschaftlerin Viola Neu hat das untersucht und kommt zu einem klaren Ergebnis: Fehlanzeige. Die alten Klischees funktionieren nicht mehr.
In ihrer Studie, erarbeitet im Auftrag der unionsnahen Konrad Adenauer Stiftung, hält sie fest: Ob jemand Gewerkschaftsmitglied ist, katholisch oder konfessionslos, Arbeiter oder Akademiker – egal, Stammwähler, die über lange Zeit hinweg ein und dieselbe Partei wählen, sind heute eher die Ausnahme als die Regel. Drei Viertel der Wahlberechtigten, so Neu, seien Wechselwähler. Sie sind nicht festgelegt auf eine bestimmte Partei, sondern machen ihr Kreuz mal hier, mal dort auf dem Wahlzettel. „Die große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler kann sich vorstellen, mehrere Parteien zu wählen", fasst Neu die Lage zusammen. Und erklärt, was hinter dem veränderten Wahlverhalten steckt. Die Gesellschaft habe sich schließlich stark gewandelt, die Menschen seien mobiler, die Lebensstile heute individueller und vor allem vielfältig. Und diese Faktoren spiegelten sich auch im Wahlverhalten.
Gar nicht oder einfach ganz anders?
Wenn Wähler wechselfreudig sind, was die parteilichen Vorlieben angeht, dann führt das im Deutschen Bundestag mitunter zum Umbau. Die Ergebnisse der Wahl vom September 2017 haben sogar für einiges Stühlerücken gesorgt – vor allem auf Kosten der großen Parteien. CDU/CSU und SPD hatten damals etliche Sitze verloren, zusammengerechnet ging ihr Stimmenanteil um fast ein Fünftel zurück. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat 2020 untersucht, wie es um die Wählerbindung stand und wohin es Wechselwähler bei der letzten Bundestagswahl gezogen hat. Das Ergebnis in aller Kürze: Rund drei Fünftel der Wähler blieben damals ihrer Wahlentscheidung von 2013 treu. Zwei Fünftel machten ihr Kreuz hingegen an anderer Stelle. Insbesondere die AfD, die 2017 zum ersten Mal in den Bundestag einzog, profitierte von solchen Wechselwählern: Rund ein Viertel ihrer Wähler hatte vier Jahre zuvor noch die Union gewählt, ein knappes weiteres Viertel die SPD oder die Linke. Ein weiteres Viertel der AfD-Wähler hatte sich an der vorherigen Bundestagswahl hingegen gar nicht beteiligt.
Zur Gruppe der Nichtwähler hält die Studie des DIW fest: Die Hälfte aller, die 2013 nicht gewählt haben, blieb auch fünf Jahre später der Wahlurne fern. Bleibt abzuwarten, wie sich die wahlberechtigten Millionen dieses Jahr entscheiden. Die Wahlbeteiligung war zuletzt, nach einem längeren Abwärtstrend, wieder leicht angestiegen. Auch dazu gibt es schon Prognosen, denn die Meinungsforscher hinter der eingangs zitierten Sonntagsfrage helfen hier ebenfalls mit Daten weiter. Das Wahlforschungsinstitut Forsa fragt nach, wer nicht wählt oder noch unentschlossen ist – und Ende Juli war das immerhin ein Viertel der Wahlberechtigten. Ob sie in diesem Jahr zur Urne gehen oder nicht, wissen wir am 26. September.