Der AfD fehlt ein zentrales Thema in diesem Wahlkampf, und das Spitzenteam mit Alice Weidel und Tino Chrupalla harmoniert nur bedingt. Und nach wie vor bestimmen Flügelkämpfe den Auftritt der Partei.
Spitzenkandidatin Alice Weidel konnte ihr Glück kaum fassen. Vor dem Ostportal des Bundestages steht ein großer, blauer, hochmoderner Doppeldeckerbus, der „Volksexpress". Wahlkampfbus der AfD. Allerdings muss Weidel dann zur Kenntnis nehmen, dass dies der Wahlkampfbus ausschließlich des Landesverbandes Brandenburg ist, der da eingeweiht wird. Die AfD-Bundesgeschäftsstelle, die den Wahlkampf von Weidel und Chrupalla organisiert, kann diesen zwar anfragen, aber Haupteinsatzgebiet des „Volksexpress" ist vor allem Brandenburg. Einige Wochen später fahren Alice Weidel und Tino Chrupalla dann folgerichtig auch nicht mit dem großen, auffälligen Doppeldecker zum Auftakt der heißen Wahlkampfphase am alten Garten in der Mecklenburgischen Landeshauptstadt Schwerin vor, sondern mit einem Kleinbus. Dieser würde im Straßenverkehr nicht weiter auffallen, wäre er nicht von großen schwarzen Limousinen mit Blaulicht flankiert, den eigentlichen Dienstfahrzeugen von Weidel und Chrupalla.
Die beiden Wahlkämpfer ertragen den Kleinbus mit Haltung. Während die Spitzenkandidatin im schwarzen Jackett mit weißer Bluse und dunkler, beiger Hosen auftritt, entsteigt Spitzenkandidat Chrupalla im Outfit eines Malermeisters, der er im tatsächlichen Leben ist, dem Kleinbus. Volksnähe ist gefragt, und da macht sich die weiße Arbeitsmontur immer gut. Allerdings wechselt er dann vor seinem Auftritt doch noch sein Äußeres und tritt in seinem Anzug in AfD-Blau auf die Bühne.
Flüchtlingsdebatte verfängt nicht
Beim Wahlkampf-Auftakt Anfang August in Schwerin wird eines deutlich: Auch die AfD hat zu diesem Zeitpunkt noch kein so richtiges Thema, mit dem man im Bundestagswahlkampf aus AfD-Sicht bei der eigenen Klientel so richtig punkten kann. Natürlich stehen die Corona-Maßnahmen im Mittelpunkt, doch jetzt im August genießen die meisten Deutschen ihren Jahresurlaub und die neuen Freiheiten, auch dank der geringen Inzidenzen. Das Thema verfängt also nur noch bedingt. Unterdessen hat Bundesgesundheitsminister Spahn die 50er-Inzidenz endgültig kassiert, zukünftig wird die Hospitalisierung zum maßgeblichen Richtwert für Corona-Maßnahmen, also wieviel Menschen mit einer Covid-Infektion stationär behandelt werden müssen. Damit haben die Bundesregierung, aber auch die Ministerpräsidenten der Länder den Kritikern der Corona-Maßnahmen vier Wochen vor der Bundestagswahl ein wichtiges Wahlkampfargument abgeräumt. Guter Rat ist an dieser Stelle gerade für die AfD teuer.
Dann kam das deutsche Rückzugs-Fiasko aus Afghanistan und ein erneut drohender Flüchtlingsstrom. Endlich ein Thema, mit dem dann auch Alice Weidel und Tino Chrupalla punkten können. Nicht zu vergessen, der Flüchtlingssommer 2015 hat sie vermutlich überhaupt in den Bundestag gespült, denn vor dem Ansturm über die Balkanroute sah es auch damals nicht gut aus. Nach dem Fall von Kabul sind sofort Union und SPD, aber selbst die Grünen gewarnt. Jetzt bloß keine Debatte über die Aufnahme von Tausenden Flüchtlingen aus Afghanistan. Aber die Debatte ließ sich nicht verhindern. Schnell waren sich alle politisch Handelnden einig, dass Deutschland eine moralische Pflicht habe, gerade die Ortskräfte hier aufzunehmen, um sie vor den Taliban zu schützen. Auch AfD-Fraktionschef im Bundestag Alexander Gauland bestätigt gegenüber FORUM, dass es „unsere Pflicht ist", die Menschen, die jahrelang Deutschland am Hindukusch unterstützt haben, jetzt in höchster Not aufzunehmen.
Mit dieser klaren Position von Gauland wurde Ende August wieder das Grundproblem der Alternative für Deutschland offenbar. Denn die Spitzenkandidaten Alice Weidel und Tino Chrupalla sehen zwar die moralische Verantwortung, ziehen aber ganz andere Schlüsse als ihr AfD-Ehrenvorsitzender. „Wir können jetzt nicht alle Ortskräfte nach Deutschland holen, das würde unsere Sozialsysteme erneut überfordern", so Alice Weidel gegenüber FORUM. Auch Spitzenkandidat Chrupalla bestätigt: „Ein Schutz der Ortskräfte bedingt ja nicht, dass jetzt alle hierherkommen müssen, sondern dass sie auch in den Nachbarstaaten zu Afghanistan untergebracht werden könnten." Es ist die ewige Grunddiskussion innerhalb der AfD, wie viel Humanität patriotisch umsetzbar ist. Da geht es vor allem um die Basis draußen im Lande.
Wie viel Humanität ist noch patriotisch?
So merkwürdig es klingen mag, aber auch die AfD ist eine junge, basisdemokratische Partei mit der gleichen Richtungsdebatte, wie es bei den Grünen vor 40 Jahren war. Bei den Grünen waren es die Fundis und Realos, bei der AfD ist es der völkische Flügel gegen den Rest. Wer auf den vergangenen Bundesparteitagen der AfD die Debatten um die Anträge zur Geschäftsordnung verfolgt hat, wähnte sich um Jahrzehnte zurückversetzt. So wie nach dem Grünen-Gründungsparteitag im Januar 1980 in Karlsruhe „haben sich auch bei der AfD nach der Gründung ziemlich viele Spinner eingenistet, die uns jetzt das Leben schwer machen", bringt es eine ehemalige CDU-Politikern, die seit vier Jahren Bundestagsabgeordnete der AfD ist, auf den Punkt.
Dabei sind die Grenzen bei den Nationalkonservativen fließend: Da gibt es den völkischen Flügel, der sich zwar erklärtermaßen selbst aufgelöst hat, nur um danach umso aktiver zu sein. Die Rechtsaußen um den ehemaligen brandenburgischen Landeschef Andreas Kalbitz, der auch in diesem Wahlkampfsommer immer wieder bei AfD-Veranstaltungen auftaucht, als Gast natürlich. Wie viel Einfluss Kalbitz noch in der AfD hat, ist schwer einzuschätzen. Auffällig ist, wenn Rechtsaußen Björn Höcke aus Thüringen bei Wahlkampfveranstaltungen auftaucht und offiziell spricht, kommt meist auch Andreas Kalbitz vorbei. Das Duo funktioniert also offensichtlich noch. Auch wenn Kalbitz aus der AfD rausgeflogen ist, sind viele Wahlkampfbesucher bemüht um ein Selfie mit dem Brandenburger, der eigentlich aus München kommt, das sie dann auf die eigene Homepage stellen.
Dann gibt es die Junge Alternative (JA), die im Gegensatz zum „Flügel" eine anerkannte Parteigliederung ist und gerade im Osten Deutschlands eine maßgeblich treibende Kraft des Bundestagswahlkampfes vor Ort. Die JA verfügt über ein hohes Mobilisierungspotenzial, hat aber auch ein erhebliches Potenzial von Rechtsaußen-Hardlinern. Auffallend ist, dass sich bei der JA keineswegs die Abgehängten, die sozial unter die Räder Gekommenen versammeln, wie noch in den 90er-Jahren bei der NPD oder Republikanern. Mitglieder und Funktionäre der JA rekrutieren sich aus der angehenden Mittelschicht der Zukunft, viele Auszubildende in Verwaltungs- und Büroberufen, Friseurinnen und anderen Handwerksberufen und Bundeswehrsoldaten. Aber auch Studenten sind dabei.
Entgegen dem allgemeinen Vorurteil, rechte, nationalistische Parteien seien Männersache finden sich nicht nur bei der Jugendorganisation der AfD auffallend viele junge Frauen, sie geben auch deutlich mit den Ton an. Jugendorganisationen aus dem Linken- und Klimaspektrum haben ihre absoluten Hochburgen in der Regel in den urbanen Zentren, vor allem den Großstädten, sind aber auf dem platten Land, in der Provinz eher spärlich organisiert. Bei der Alternativen Jugend ist es genau umgekehrt. Politikwissenschaftler führen dies auf die Lebensumstände in den ländlichen Regionen zurück: Hier funktioniert die Umwelt noch halbwegs und das handwerkliche Umfeld dominiert. Debatten um gendergerechte Toiletten im örtlichen Rathaus stoßen hier nicht nur bei jungen Menschen auf wenig Verständnis.
Bloß keine Nähe zulassen
Ein weiterer wichtiger Arm des AfD-Wahlkampfes sind die Bundestagsabgeordneten, ihnen kommt eine besondere Rolle zu. Immerhin haben sie vier Jahre im höchsten deutschen Parlament gesessen. Wobei die Wirkungskraft ihrer Arbeit eher kein großes Aushängeschild für den Wahlkampf ist, vieles hat sich im Klein-Klein des Parlamentsalltags in Wohlgefallen aufgelöst und parteiinterne Streitigkeiten haben ein Übriges getan. Dazu kommt ein nicht unbeträchtlicher Schwund. Von den ursprünglich 94 gewählten AfD-Bundestagsabgeordneten sind heute noch 86 übrig geblieben. Noch nie hat eine neue Partei im Bundestag innerhalb einer Legislatur einen derartigen Exodus an Fraktionsmitgliedern erlebt. Die erste, die spektakulär ging, war die ehemalige Bundesprecherin Frauke Petry. Trotzdem ist die AfD im Bundestag weiterhin zahlenmäßig Oppositionsführerin.
Wobei die anderen Oppositionsfraktionen penibel darauf bedacht waren, jede Nähe zur AfD bei aller Kritik am Regierungshandeln zu vermeiden. Was gelegentlich eine schwierige Gratwanderung war. In der Ablehnung der Bundeswehreinsätze in Afghanistan und Mali war sich die Linke eigentlich mit der AfD einig. Dass das aus sehr unterschiedlichen Gründen der Fall war, ist oft schwer vermittelbar, erst recht in einer auf kurze Schlagzeilen – oder Wahlkampfslogans – reduzierten Auseinandersetzung. Auch die FDP hat zugesehen, dass nicht zu viele thematische Überschneidungen mit der AfD offenbar wurden, wobei sich Liberale gerade in Wirtschaftsfragen mit der AfD doch in vielen Punkten näher sind als man annehmen sollte. So zum Beispiel bei der Debatte um die Enteignung der Wohnungsbaukonzerne. Doch diese Abgrenzungen zur AfD ließen sich nicht immer durchhalten. FDP, aber auch Linke und Grüne mussten sich auch schon mal mit der AfD verständigen, wie der Wirecard-Untersuchungsausschuss gezeigt hat. Vorsitzender war der AfD-Bundestagsabgeordnete Kay Gottschalk aus Hamburg, bis 2013 Mitglied der SPD. Im Wirecard-Untersuchungsausschuss ging es um die fahrlässige Aufsichtspflicht von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) über den vermeintlich „überraschend" pleitegegangenen Finanzdienstleister Wirecard. Eine endgültige Mitschuld am totalen Versagen der Kontrolle konnte Bundesfinanzminister Scholz zwar nicht nachgewiesen werden, doch die Obmänner von FDP, Grünen und Linken im Untersuchungsausschuss attestierten dem AfD-Vorsitzenden Kay Gottschalk parlamentarische und vor allem parteiübergreifende Professionalität im gemeinsamen Handeln. Doch damit lässt sich für die AfD natürlich auf den Markplätzen kein Wahlkampf machen.
Weidels teuer bezahlte „Spenden"
Ohne bislang ein großes zentrales Thema versucht sich die Bundesvorsitzende Alice Weidel im Wahlkampf als Familienmensch, als Mutter, zu präsentieren, um dem Familienbild der Partei gerecht zu werden. Doch die kinderlose 42-Jährige stößt da ganz automatisch an ihre Grenzen. Das kann dann schon mal ihre potenziellen Wähler zum Beispiel beim Wahlkampfauftakt im alten Garten von Schwerin ratlos zurücklassen. Dort berichtete Weidel ganz beherzt von ihrer Familie, „von ihren beiden Jungs", die sie mit ihrer Partnerin Sarah großziehen würde. Dieses Familienbild funktioniert ohne Probleme zum Beispiel in Berlin-Friedrichshain oder Kreuzberg, zwei Frauen, zwei Kindern, eine Familie! Doch hat dies wenig mit dem tradierten Familienbild in der AfD, schon gar nicht in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands zu tun, da wo die Partei tatsächlich stark ist.
Spitzenkandidat Tino Chrupalla an der Seite von Weidel könnte mit eben diesem hergebrachten Familienbild authentisch werben. Macht er aber nicht. Chrupalla will aus Sicherheitsgründen seine Familie weitgehend vor der Öffentlichkeit schützen, und damit findet diese auch im Wahlkampf nicht statt. Das ist der kleine, aber feine Unterschied zwischen den AfD-Spitzenkandidaten Alice Weidel und Tino Chrupalla. Wobei bei Weidel noch erschwerend hinzu kommt, dass ihr in Sachen Parteienfinanzierung einige erhebliche Patzer unterlaufen sind. Für eine umstrittene Parteispende an ihren Kreisverband Bodensee, in dem sie 2017 Spitzenkandidatin war, wurde die Partei noch im Sommer endgültig vom Verwaltungsgericht Berlin zu einer Strafzahlung von 396.000 Euro verurteilt, Geld, das nun im Wahlkampf fehlt und obendrein gerade Kleinspender vergrault haben dürfte. Wer spendet schon gern für seine Partei, damit diese dann davon erst mal ihre Strafe zahlen kann, anstelle von dem Geld Plakate zu kleben.
Für den AfD-Wahlkampf spielt ohnehin der digitale Wahlkampf die größere, wenn nicht die entscheidende Rolle. Ihr Kommunikationsstil erfüllt ohnehin per se fast ideal die Selektionskriterien der Social-Media-Algorithmen, bei denen es schlicht um Aufmerksamkeit um jeden Preis geht. Die Reizspirale bedient die AfD mit so hoher Professionalität, dass ihr Kommunikationsberater Johannes Hillje, Autor von „Propaganda 4.0", bescheinigt: „Die AfD ist Großprofiteur der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie".