Nach einer geplatzten Jamaika-Koalition im Jahr 2017 und vier Jahren Opposition könnten die Liberalen womöglich mit in einem Regierungs-Trio sitzen. Beliebt ist die Partei vor allem bei Jüngeren.
Unter Twitter-Usern macht sich Enttäuschung breit. Erneut hat die Bundesregierung die epidemische Lage nationaler Tragweite ausgerufen, erneut gab es Abstimmungen. Doch ausgerecht derjenige Politiker, der sich wie kein anderer immer wieder medial für Freiheits- und Grundrechte stark macht und die eingeschränkten Bürgerrechte anprangert, hat an der Abstimmung gar nicht erst teilgenommen. Die Rede ist vom Bundestagsvizepräsidenten und stellvertretenden FDP-Bundesvorsitzenden Wolfgang Kubicki. „Ich bin maßlos enttäuscht", schreibt eine Userin auf Twitter. „Die FDP ist und bleibt eine scheinoppositionelle Umfallerpartei", twittert ein anderer, während ein dritter gleich die Arbeitsmoral Kubickis infrage stellt: „Arbeitsverweigerung und unentschuldigtes Fehlen am Arbeitsplatz – ist das nicht ein Kündigungsgrund?" Eher resigniert äußert sich noch eine weitere Kommentatorin auf der Social-Media-Plattform zu der Absenz des 71-Jährigen. Sie sei „langsam am verzweifeln", schreibt sie. Sie wisse gar mehr, „was" sie noch wählen solle. Tatsächlich haben 67 von 80 FDP-Abgeordneten gegen eine Verlängerung votiert. 13 gaben ihre Stimme gar nicht ab, zu denen Wolfgang Kubicki ebenso zählt wie der FDP-Chef Christian Lindner. Erwähnt werden muss auch, dass bei insgesamt 325 Zustimmungen und 252 Ablehnungen parteiübergreifend die absenten FDP-Stimmen sowieso nicht das Zünglein an der Waage gewesen wären. Möglicherweise haben sich die Social-Media-affinen Maßnahmen-Kritiker auf Twitter mit ihrer Hoffnung auf Wolfgang Kubickis explizite Gegenstimme verzweifelt an einen Strohhalm geklammert, der dem scharfen Wind seitens der Ministerkonferenz nicht standhalten kann.
Regieren bereits in drei Bundesländern mit
Die Freien Demokraten kennen das Politgeschäft in- und auswendig. Dazu gehört auch das Ringen um Kompromiss- und Konsensfindung. Seit 1949 saß die FDP kontinuierlich im Bundestag, sei es als Regierung- oder als Oppositionsfraktion. 64 lange Jahre. Bis zum Jahr ihres Tiefpunktes, 2013, als sie zwischenzeitlich keine Sitze mehr im Bundestag bekamen. Die Partei stand am Abgrund: Mandate weg, Apparat weg, Geld weg. „Es ist die bitterste, die traurigste Stunde in der Geschichte der Freien Demokratischen Partei", kommentierte der damalige FDP-Vorsitzende Philipp Rösler das Scheitern seiner Partei an der Fünf-Prozent-Hürde. Dann trat er zurück.
Längst hat sich die derzeitige Oppositionspartei wieder berappelt. In drei Bundesländern regiert sie bereits mit. Erst im März dieses Jahres feierten die Liberalen mit Hans-Ulrich Rülke den Wiedereinzug in den Landtag von Baden-Württemberg. Das zweistellige Ergebnis ist das beste Wahlergebnis der Freien Demokraten in Baden-Württemberg seit 1968. Parteichef Christian Lindner kommentierte die Ergebnisse im Frühjahr als „guten Auftakt für das wichtige Wahljahr 2021". Auch auf Bundesebene kann die Partei punkten. Nach einer aktuellen Wahlumfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa landet die FDP bundesweit bei 14 Prozent. Von den 18- bis 29-Jährigen würden sogar 21 Prozent den Liberalen ihre Stimme geben. Mit dem derzeitigen Vorsprung der SPD vor der Union hätten die regierungswilligen Liberalen zusammen mit den Grünen eine Chance auf eine mögliche Ampel-Koalition.
Allerdings steht die FDP der Union näher. Dass Kanzlerkandidat Armin Laschet, CDU-Chef, ein ausgesprochen vertrauensvolles Verhältnis mit Spitzenkandidat Christian Lindner pflegt, ist ein offenes Geheimnis. Auch Fraktionsvize Wolfgang Kubicki äußerte sich kürzlich eher verhalten zu einem potenziellen Ampel-Bündnis mit Grünen und SPD. Es sei „extrem unwahrscheinlich, weil vor allem in der Steuerpolitik die Vorstellungen sehr weit auseinandergehen". Damit es zu einer Jamaika-Koalition kommen kann, müsste die CDU aber das Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Sozialdemokraten in den nächsten drei Wochen erst einmal gewinnen.
Klar ist auch, dass sich die FDP in ihrem Wahlprogramm deutlich von der aktuellen Koalition absetzt. „Wir haben mehr als 600 konkrete Ideen für eine bessere Politik und Lösungen für die drängendsten Probleme unseres Landes", heißt es denn auch selbstbewusst auf der Webseite. „In Deutschland wurde viel zu lange das Bild vermittelt, dass alles bleiben könne, wie es ist", sagt FDP-Generalsekretär Volker Wissing. Die Pandemie habe deutlich gemacht, wie trügerisch diese Haltung ist. Der FDP gehe es darum, „nicht immer nur den Staat" stark zu machen, sondern jede Bürgerin und jeden Bürger, ergänzt Lindner dazu. Bei den derzeitig frappierend niedrigen Umfragewerten sowohl für CDU wie auch für die SPD steht die Mehrheit der Bevölkerung sowieso nicht mehr hinter dem „Weiter so"-Kurs der beiden Volksparteien. Mehr als die Hälfte der Befragten wünscht sich alles andere als eine neue GroKo. Je nachdem wie die FDP jetzt weiter agiert und wie sich die anderen Parteien jenseits von SPD und CDU weiter positionieren, könnte es noch zu weiterem Stimmenzuwachs für die Liberalen kommen.
Auf eine Frauenquote bislang verzichtet
Im Parteiprogramm zur Bundestagswahl findet man außer dem Einsatz für Bürgerrechte auch andere traditionelle liberale Themen wie etwa die Forderung nach niedrigeren Steuern, der Legalisierung von Cannabis und einem herabgesetzten Wahlalter auf 16 Jahre. In der jüngeren Vergangenheit haben die Freien Demokraten in Sachen Bürgerrechte Position bezogen, als es um den sogenannten Staatstrojaner ging. Erst im Juli hat die FDP-Bundestagsfraktion eine Verfassungsbeschwerde gegen die neuen Befugnisse für die Inlandsnachrichtendienste eingelegt. Marco Buschmann, ein enger Vertrauter Lindners und parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion, vergleicht den Einsatz des „Staatstrojaners" mit der heimlichen Durchsuchung von Privaträumen. In einer Gesellschaft, in der jeder jederzeit potenziell damit rechnen müsse, überwacht zu werden, sei es normal, wenn sich Bürger fragten, ob sie überhaupt noch frei reden könnten, so der studierte Jurist.
Das Freiheitliche und das Liberale zieht sich wie ein roter Faden durch die Partei ebenso wie in den vergangenen Jahren der Hang zur One-Man-Show. Das Ein-Mann-Phänomen tauchte bereits in den frühen 2000er-Jahren auf, als der zwischenzeitlich verstorbene Guido Westerwelle noch an der Spitze der Partei stand. Nun steht Parteichef Christian Lindner als Protagonist im Fokus. Ria Schröder, stellvertretende Landesvorsitzende der FDP Hamburg und ehemalige Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen, kritisierte das Phänomen bereits im vergangenen Sommer. „Die One-Man-FDP hatten wir vielleicht in der außerparlamentarischen Opposition, als wir nur ein Gesicht hatten", sagte die 29-Jährige im August 2020 im ARD-Morgenmagazin. „Jetzt haben wir hier drüben 80 Bundestagsabgeordnete sitzen und ein Team aus vielen Erfahrungen von Fachpolitikerinnen und Fachpolitikern." Deshalb sei es nicht hinnehmbar, „dass immer nur noch das eine Gesicht mit der FDP verbunden wird". Parteiintern wollte man sich länger von der einseitigen Fokussierung auf Christian Lindner lösen. Die Liberalen wollten sich personell „verbreitern", als „starkes Team" präsentieren und keine reine Lindner-Garde mehr sein.
Die Wahlkampagne auf den Plakaten indes spricht eine andere Sprache. Die großflächigen Bilder zur Wahl am 26. September zeigen vor allem ein Parteimitglied: Christian Lindner. Hochwertige Schwarz-Weiß-Fotos, meistens Porträts. Mal sieht man den 42-Jährigen, wie er mit konzentriertem Blick nachts auf seinen beleuchteten Bildschirm guckt. Mal, wie er im Freien steht und in die Ferne schaut. Oder ein anderes Mal, wie er auf dem Acker einer Baumschule hockt. Ein gereifter Mann. Unermüdlich, anpackend, mitten im Leben. „Wie es ist, darf es nicht bleiben", lautet einer der Wahlsprüche der Liberalen. In puncto Christian Lindner aber bleibt alles wie gehabt. Zumindest in dieser Wahlkampagne.
Mit 25 Jahren schon Generalsekretär gewesen
Was auch bleibt, ist der immer noch geringe Frauenanteil. Seit Jahren kämpfen die Freien Demokraten mit dem Image, eine Männerpartei zu sein. Tatsächlich ist nur jedes fünfte Mitglied eine Frau, in der Bundestagsfraktion liegt ihr Anteil bei 23 Prozent. Der Eindruck einer männerdominierten Partei wurde durch die Ablösung Linda Teutebergs als Generalsekretärin im vergangenen Herbst bestärkt. Das Amt hatte sie nur 16 Monate inne, bevor sie durch Volker Wissing ersetzt wurde. Christian Lindner setwas anzüglicher Spruch bei der Verabschiedung von Linda Teuteberg sorgte für harsche Kritik bei der Frauenzeitschrift „Emma", die ihn gleich als „Sexist Man Alive 2020" auf ihr Titelblatt hievte. Die Freien Demokraten haben als einzige Partei außer der AfD bislang auf eine satzungsmäßige Frauenquote verzichtet. Auf dem Parteitag im Jahr 2019 wurden erstmals seit vielen Jahren wieder frauenpolitische Themen besprochen. Die Delegierten entschieden nach teils heftiger Debatte, dass sie zwar mehr Frauen wollten, aber keine Quote. Lindners politische Vertraute sind ohnehin eher Männer: Außer Marco Buschmann und Wolfgang Kubicki wäre da unter anderem noch Andreas Pinkwart zu nennen. Der nordrhein-westfälische Wirtschafts- und Digitalminister gilt als Förderer des in Wuppertal geborenen Politikers. Christian Lindner war bereits mit 16 Jahren der Partei beigetreten und bald zum Landesvorsitzenden der Liberalen Schüler NRW avanciert. 2004 machte Andreas Pinkwart die damals erst 25 Jahre alte Nachwuchshoffnung zum Generalsekretär. Da steckte der junge Rheinländer noch mitten in seinem Politologie-Studium an der Universität Bonn. Zuvor war er Mitbegründer einer Internetfirma und als Unternehmensberater tätig.
Privat hat der Spitzenkandidat ein Faible für Journalistinnen. Von 2011 bis 2020 war er mit der „Welt"-Redakteurin Dagmar Rosenfeld verheiratet. Jetzt ist er mit der RTL-Reporterin Franca Lehfeldt liiert. Mit ihr soll er auch schon über Familienplanung gesprochen haben. Sein größter Wunsch an das Leben sei nicht, einmal Minister in der Regierung zu sein. „Sondern bald zwei, drei oder vier Mädchen oder Jungs zu haben."