Kürzlich hat er es wieder getan: Er hat die Bundesregierung zum Rücktritt aufgefordert, weil sie bei der Rückholung der Afghanistan-Helfer versagt habe. „So geht das nicht. Wenn ich Leute benutze, dann muss ich sie auch schützen." Gregor Gysi, auch mit 73 kein bisschen leise.
Seine Zeit im Berliner Senat (2002 bis 2005) ausgenommen, sitzt Gregor Gysi seit der Wiedervereinigung im Deutschen Bundestag. Mit bissiger Rhetorik hat der heute 73-Jährige das Parlament die meiste Zeit aufgemischt. Zuletzt ist es um den langjährigen Fraktionschef der Linken im Bundestag ruhiger geworden. Doch in Talkrunden und auf Events gibt der gelernte Rinderzüchter und Diplom-Jurist nach wie vor den Polit-Entertainer. Wir sprachen mit der Linken-Ikone Gregor Gysi über die Krise seiner Partei, niedrigere Löhne im Osten, das Verhältnis zu Russland und darüber, warum er sich den Abgeordnetenjob noch einmal antut: „Meine Aufgabe ist noch nicht erfüllt!"
Herr Gysi, seit der deutschen Wiedervereinigung sind Sie – mit einer Unterbrechung – Mitglied im Deutschen Bundestag und kandidieren nun wieder. Haben Sie noch eine Mission zu erfüllen?
Auch mehr als 30 Jahre nach der deutschen Einheit gibt es in Ost und West noch immer nicht gleiche Löhne für die gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit. Nach wie vor wird nicht die gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung gezahlt. Damit dies in den nächsten vier Jahren endlich umgesetzt wird, kandidiere ich noch mal in meinem Wahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick. Meine Aufgabe ist auch deshalb noch nicht erfüllt.
Gleichstellung von Ost und West ist eines Ihrer großen politischen Themen: Woher nehmen Sie die Hoffnung, dass die in den nächsten Jahren gelingt?
Man kann es niemandem mehr erklären, dass die Metaller bei Siemens in Treptow für den gleichen Lohn drei Stunden länger arbeiten müssen als ihre Kolleginnen und Kollegen in Spandau. Oder dass in einem der modernsten Backbetriebe Europas in Eisleben 10,81 Euro pro Stunde gezahlt werden, während es im fränkischen Gerolzhofen deutlich mehr sind. Der politische und gesellschaftliche Druck aus dem Osten gegen solche Zustände wird stärker.
Sozialabbau, Altersarmut, immer mehr prekäre Jobs: Eine Entwicklung, die der Linken eigentlich in die Karten spielen müsste. Stattdessen sind die Umfragewerte eher mau. Das dürfte einerseits an innerparteilichen Querelen liegen. Andererseits hat man bei einigen führenden Linken das Gefühl, dass sie Interessen ihrer Stammklientel nicht mehr ausreichend vertreten: Genderfragen und Migrationsthemen scheinen wichtiger als sozialer Ausgleich und solidarisches Miteinander …
Ich kenne niemanden in der Linken, der sozialen Ausgleich als unwichtig ansieht. Soziale Gerechtigkeit ist das Kernthema der Linken und unser Wahlprogramm ist da auch klar und konsequent. Aber man darf auch nicht so tun, als ob soziale Ausgrenzung nicht auch mit Gender- oder Migrationsfragen zu tun hat. Allein dass Frauen für die gleiche Arbeit immer noch schlechter bezahlt werden als Männer bedeutet doch für Frauen eine doppelte soziale Benachteiligung, wenn sie zum Beispiel in einem Job arbeiten, in dem die Löhne ohnehin zu niedrig sind. Die Linke hat sich zu lange zu viel mit sich selbst beschäftigt. Das hängt uns noch nach. Aber jetzt ziehen alle an einem Strang und kommt Schwung in unseren Wahlkampf.
Wenn der Einzug in den Bundestag gelingt, ist die Linke aller Voraussicht nach wieder Oppositionspartei. Nervt es auf Dauer nicht, seit gefühlter Ewigkeit auf Bundesebene nur als „Protestpartei aus dem Osten" wahrgenommen zu werden?
Warten wir mal ab, wie die Wählerinnen und Wähler entscheiden. In aktuellen Umfragen ist eine Regierungskonstellation mit Beteiligung der Linken die Variante mit der zweithöchsten Zustimmung. Eins ist doch klar: Alle anderen Parteien wären bereit, unter bestimmten Umständen Armin Laschet zum Kanzler zu wählen. Nur wer die Linke wählt, kann sicher sein, dass das am Ende keine Stimme für die Fortsetzung einer unionsgeführten Bundesregierung ist. Und das Land braucht nun wirklich dringend einen Wechsel, eine andere Politik.
Viele Bundesgesetze sind letztlich auch jahrelangen Initiativen der Linken zu verdanken: Beispiel Grundrente – auch wenn sich die Partei jeweils viel mehr wünschen würde. Nur dankt es Ihnen keiner. Wie empfinden Sie das?
Das ist der Lauf der Dinge, wenn man in der Opposition ist und sich eben zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber als wir 1998 zum ersten Mal einen gesetzlichen Mindestlohn forderten, waren bis auf zwei Gewerkschaften alle anderen und auch alle anderen Parteien strikt dagegen. 2015 hat ihn eine Regierung von CDU/CSU und SPD eingeführt. Es ist also gelungen, den Zeitgeist so zu verändern, dass Union und SPD am Ende nicht mehr um den Mindestlohn herumkamen. Wären wir Teil der Bundesregierung gewesen, wäre es schneller gegangen, er wäre so hoch, dass man davon leben könnte und im Alter eine vernünftige Rente bekäme und es gäbe keine Ausnahmen. Ein sozialeres Deutschland gibt es nur mit der Linken in der Bundesregierung.
Themenwechsel: Seit Jahren warnen Sie vor dem Konfrontationskurs gegen Russland und China: Welche negativen Folgen befürchten Sie, sollte es zu keiner Kurskorrektur kommen?
Probleme wie die Klimakrise, die soziale Spaltung, die Lösung internationaler Konflikte sind zu Menschheitsfragen geworden, die man nur durch Zusammenarbeit und internationalen Interessenausgleich lösen kann. Wenn man die Konfrontation mit Russland und China weiter zuspitzt, wird man weder diese Menschheitsprobleme lösen noch in Russland und China Veränderungen erreichen. Zu Zeiten des Kalten Krieges war die Politik von Willy Brandt klüger, Wandel durch Annäherung. Sie trug dazu bei, dass aus dem Kalten Krieg kein heißer wurde und es Veränderungen im Osten gab.
Noch eine Frage zu Ihrem Wahlbezirk Treptow-Köpenick: Was sind Ihre politischen Ziele für den Bezirk? Was schätzen Sie sonst an Treptow-Köpenick?
Treptow-Köpenick ist der schönste Bezirk Berlins, allein wenn ich an die Seen, Flüsse, Wälder und Berge denke. Es gibt so viele Ecken, wo man seine Seele baumeln lassen kann. Und zugleich hat man die Vorteile einer Großstadt. Damit das so bleibt, müssen die Menschen aber weiter ihre Miete bezahlen können, brauchen mehr Mitsprache, muss die Natur erhalten werden und für alle zugänglich bleiben, muss mehr und gerecht bezahlte Beschäftigung entstehen, brauchen wir eine prosperierende Wirtschaft, die für die Menschen da ist und nicht umgekehrt und natürlich eine gut funktionierende Verwaltung. Bei all dem gibt es noch viel zu tun in Treptow-Köpenick und da möchte ich als Wahlkreisabgeordneter meinen Teil dazu beitragen.