Besucher können auf der schwedischen Insel Gotland in die Geschichte des Mittelalters und der Wikinger eintauchen – und eine faszinierende Natur erleben.
Am besten nähert man sich von der Seeseite mit der Fähre oder dem Kreuzfahrtschiff. Dann wirkt die kinoreife Silhouette von Visby richtig. Man sieht sie, wie Kaufleute, Seeräuber und andere Ankömmlinge die Stadt zur Hansezeit sahen, als sie der wichtigste Handelsstützpunkt im Ostseeraum war. Eine hohe, blitzend weiße Stadtmauer mit Türmen, Zinnen, Wächtergängen, Wallgraben und gut verschließbaren Doppeltoren – eine Drohgebärde.
Vermögende kaufen heute eine Villa, eine Jacht, einen Privatjet. Damals bauten sie Handelshäuser mit Treppengiebeln und schicken Blendfassaden, Kirchen und eine ordentliche Stadtmauer. Die wehrhaften Steine strotzen nur so vor Macht und Überlegenheit, aber auch vor Angst. Schließlich war Visby die reichste und größte Hansestadt im Norden, noch vor Lübeck, und hatte allen Grund sich aufzurüsten. Und an Steinen mangelte es der Kalkinsel nicht. Solche Mauern waren der Tresor des 13. und 14. Jahrhunderts.
Insgesamt 92 mittelalterliche Kirchen
Auf gut dreieinhalb Kilometern kann man das fast vollständig erhaltene Bollwerk mit noch 27 intakten Türmen umrunden, und es fühlt sich wie pures Mittelalter an. Doch am Uferweg plötzlich kommt das blaue Bähnlein mit den Touristen angetuckert und holt die Verträumten in die Gegenwart zurück. Man schlendert auf dem historischen Areal von 195 Hektar, auf dem sich 200 Gebäude und elf Kirchenruinen verteilen; nur der Dom Sankta Maria ist noch in Funktion. Verzaubert geht man durch alte Gassen voll farbiger Häuser und blühender Rosenstöcke. Die Kaufmannshäuser ähneln jenen in Lübeck, Wismar oder Stralsund, weil der Handel zeitweise in deutscher Hand war. Nur ihr Prunk ist weniger filigran, weil Visbys Stern früh unterging. Die Hanseschwester Lübeck half dabei nach Kräften und brannte die Rivalin 1525 nieder. Der alte Groll ist längst verraucht. Heute sind sie Partnerstädte.
Der weiter zurückreichenden Vergangenheit widmet sich das Gotland Museum, in dem Besucher auch mehr über die Wikinger- und Hansezeit erfahren können. Ein eigener Raum präsentiert die seltenen aus der Eisenzeit stammenden Bildsteine. Die bis drei Meter hohen Kolosse sind mit kunstvollen teils figürlichen, teils ornamentalen Darstellungen verziert. Megalithische Zeitzeugen, die von Landleben, Schifffahrten und Tod erzählen.
Außerhalb von Visby zeigen sich noch andere Reichtümer. Gotland rühmt sich der 92 mittelalterlichen Gotteshäuser, die auf nur 3.000 Quadratkilometern stehen, eine Fläche so groß wie das Saarland. Es ist eine Fülle, die ihr den Namen „Insel der Kirchen" eintrug. Sie sind gebaute Frömmigkeit und belegen den Wohlstand der Wikingerzeit, etwa die Kirchen von Fröjel, Gammelgarn und Stenkyrka. Oder die 1164 von Zisterziensermönchen errichtete Klosterruine Roma. Die Brüder flüchteten nach der Reformation, die Dimension der Anlage samt gepflegtem Kräutergarten lassen sich an den gestutzten Grundmauern nur noch erahnen.
Die „Gutar", wie die Gotländer sich selbst nennen, finden ihre Insel klein. Aber man kann 800 Kilometer an der Küstenlinie entlangfahren und immerzu aufs Meer schauen. Den Wikingern dürfte das gefallen haben. An den Kieselstränden zählen die Raukar zu den ältesten Bauwerken. „Zu Stein gewordene Geister", sagen die Menschen auf Gutar und haben sie zu ihren Wahrzeichen erklärt. Wind, Wellen und die Salzluft frästen so lange am Gestein, bis sich Kolonnen aus bizarren Kalksteinsäulen bildeten. Geologen schätzen ihr Alter auf 543 Millionen Jahre. Von Korallen und Moos bewachsen, sind die fossilen Skulpturen in den Raukarfeldern des Naturreservates Langhammars auf der Nachbarinsel Fårö die wohl imposantesten. Man setzt sich in den Sand, fantasiert Gesichter in sie hinein, kann Nixen, Hunde und ganz bestimmt auch Geister erkennen. Nur ein schmaler Sund trennt das kleine Eiland vom großen Gotland. Das Übersetzen mit der gelben Fähre ist gratis, weil die Strecke zum öffentlichen Straßennetz gehört. Die meisten haben Fahrräder dabei.
Fårö hat 450 Einwohner, 250 Häuser, 1.000 Ferienhäuser und keine Schule. Menschen begegnet man seltener als den schwarzen Schafen, die in der Lüneburger Heide wohl Verwandte haben, und Trottellummen wie auf Helgoland.
Viel Sonne sorgt für mildes Klima
Das Land ist flach, wie überhaupt alles flach ist – Kiefern, Birken, der Krüppelwacholder und Heidekraut, alles duckt sich am Boden, auch Fischerhütten und Bruchsteinmauern. Das macht das Radeln gemütlich, erholsam. Auch die höchste Erhebung ist leicht zu bewältigen; sie misst nur 28 Meter. Wahrscheinlich hat der stramme Wind das Häuflein aufgetürmt. Man radelt gefühlte 20 Minuten ins Binnenland, und schon sieht man das Meer wieder. Nur der Fåröer Leuchtturm ragt heraus und ja, die bis zu zehn Meter hohen Raukar.
Die Idylle hat auch Ingmar Bergmann umgehauen. Der bekannte Filmemacher schwärmte für den abgeschiedenen Ort weit weg von Lärm und Trubel. „Hier will ich leben, hier will ich sterben", sagte er über seinen Lieblingsplatz in Dämba. Und so war es. Mit seiner Frau Ingrid Bergmann, die nicht die gleichnamige Schauspielerin, aber die große Liebe seines Lebens war, ruht er auf dem Friedhof der Fåröer Kirche. Immer liegen frische Blumen davor. Das schlichte Grab ist zur Pilgerstätte geworden.
Die vielen Sonnenstunden sorgen auf Gotland für ein ungewöhnlich mildes Klima. Allerdings wird niemand die Insel verlassen, ohne den Gotländer Regen kennengelernt zu haben. Denn sonst wüsste man ja nicht, was richtiger Regen bedeutet. Kübelweise prasselt er, hart und mit unvorstellbarer Ausdauer. Durch den Regen kann man eben noch die Konturen der Inselgruppe Kasrlsö erkennen, das zweitälteste Naturschutzgebiet der Welt. Wanderern oder Radlern bleibt nur, das Weite und das nächstbeste Café zu suchen, um eine Fika einzulegen. Zur typischen Gotländer Kaffeepause gibt es starken Kaffee und Safrankuchen. Man sitzt gemütlich und lässt das garstige Wetter einfach draußen.