Es gibt sie noch, die Klimakämpfer von Fridays for Future, Extinction Rebellion oder Ende Gelände. Aber der Schwung ist derzeit raus. Schuld am Mobilisierungsdefizit ist ein Erkenntnisgewinn, der auch zur Radikalisierung führen kann.
Vor der nächsten Aktion fürs Klima wird trainiert. Auf dem Plan: ein „Wegtragetraining". Dabei wird geprobt, wie vor allem Frauen sich richtig auf die Straße setzen und unter den Armen miteinander verhaken, quer über der Kreuzung. Dadurch müssen dann immer zwei Polizisten, die gemeinhin durch ihre Schutzausrüstung bullig aussehen, anpacken, wodurch in der Foto- und Fernsehoptik die Klimaaktivistinnen extrem zierlich gegenüber den Polizisten aussehen. Der erwünschte Effekt auf dem Bildschirm und in der Zeitung, erklärt Aktivistin Klara: Es sieht nach brutaler Staatsgewalt gegen Frauen aus, die für die Umwelt und damit für ihre und die Zukunft ihrer Kinder kämpfen. Die Guten gegen die Bösen. Doch das Ganze funktioniert nur, wenn genügend Aktivisten tatsächlich eine Verkehrskreuzung besetzen.
In der letzten Augustwoche war es in Berlin wieder so weit. Klima-, Umwelt- und Tierschutzaktivisten hatten zur Aktionswoche aufgerufen, insgesamt mehr als 20 Organisationen. Die Autofahrer in der Hauptstadt machten sich auf einiges gefasst; mit Auto, Bus oder Straßenbahn werde in der Innenstadt nicht viel gehen, hieß es. Ging dann aber doch.
Erhebliche Zweifel an der Ausrichtung von Fridays for Future
Denn die Kampagne hatte erhebliche Mobilisierungsprobleme. Für eine große Verkehrskreuzung reichte es bei Weitem nicht. Schließlich ließen sich die gut 1.000 Demonstranten auf dem westlichen Platz vor dem Brandenburger Tor nieder und hatten dabei auch kein Problem, die Corona-Abstandsregeln einzuhalten. Doch dort fahren keine Autos, also stört es unterm Strich keinen, und folglich fielen die medial so wichtigen „Wegtragebilder" aus.
Am Rand stand enttäuscht Klimaaktivistin Anny Reiser und beobachtete das Mini-Klima-Sit-in. Dass die gewünschten Bilder ausfielen, fand sie jedoch nicht weiter schlimm. „Die Wegtragebilder bringen doch nichts, außer einer schönen Erinnerung für die Weggetragenen." Die 23-Jährige ist seit mehr als drei Jahren dabei und wie so viele Teil der „Fridays for Future"-Bewegung (FFF). Doch schon im Sommer 2019 kamen ihr erhebliche Zweifel an der Ausrichtung von FFF. „Es ist doch recht eindimensional, zu glauben, ohne CO2 hört die Erderwärmung von heute auf morgen auf", kritisierte sie damals die Dekarbonisierungs-Hysterie gegenüber FORUM. Doch das wollte niemand aus ihrem Kreis hören. Anfang Juni dieses Jahres hat sie dann mit ihren Freunden eine Art Temperatur-Alarmeinheit im Regierungsviertel gebildet: Immer wenn das Thermometer mehr als 30 Grad in der Bundeshauptstadt überschreitet, sollte vor dem Kanzleramt und den Bundesministerien mit Trommeln und Tröten „Hitzealarm" gegeben werden. Der Sommer 2021 war nun nicht nur in Berlin recht unterkühlt und vor allem viel zu nass. Seit zehn Jahren hat es nicht mehr so viel geregnet wie in diesem Jahr, so der Deutsche Wetterdienst. Gut für die Natur, schlecht für Klimaaktivisten, deren Zeltstadt neben dem Bundeskanzleramt im Berliner Tiergarten bei dem Wetter regelrecht absäuft.
Es ist ein nachdenklicher Klimaaktions-Sommer 2021, deren Aktivisten spätestens Mitte Juli nicht nur vom Wetter reichlich irritiert sind. In diesem völlig verregneten Sommer findet auch das bekannteste Gesicht der Klimajugend, Luisa Neubauer, kritische Worte. Sie spricht sich für eine Befreiung von Benzin und Diesel von der CO2-Steuer aus. Ihr Argument ist vor allem für Autofahrer nachvollziehbar und könnte vom ADAC stammen. „Benzin und Diesel werden ohnehin schon sehr hoch besteuert, und ein CO2-Preis auf Benzin und Diesel wird Menschen kaum vom Autofahren abhalten, aber überproportional viel Aggressionspotenzial mit sich bringen", so die 25-Jährige.
Ganz offensichtlich haben die vergangenen sieben Monate bei Neubauer zu einem erheblichen Nach- und Umdenken geführt. Ihre jetzige Einlassung zur Sinnhaftigkeit einer CO2-Besteuerung von Benzin und Diesel erklärt vielleicht auch, warum das Grünen-Parteimitglied überraschend nicht als Kandidatin zur Bundestagswahl angetreten ist. Denn hinter ihrer Bemerkung zur CO2-Besteuerung steckt eine klare Systemkritik, die mit den Grundsätzen der Grünen und ihrem Wahlkampfprogramm überhaupt nicht mehr vereinbar ist, glaubt Aktivistin Anny Reiser. „Es macht doch wirklich keinen Sinn, Heizöl, Sprit oder Wohnen so zu verteuern, dass die sozial Schwachen damit ausgegrenzt werden. Denn das Geld, das sie dafür mehr ausgeben, muss logischerweise woanders eingespart werden."
Zum Beispiel für Bildung oder Kultur. Für die 23-Jährige ist Klimaschutz längst eine Systemfrage. Muss man unbedingt nach Australien in den Urlaub fahren? Sollte man den Autobesitz pro Haushalt nicht begrenzen? „Hier geht es doch längst nicht mehr um die Freiheit des Einzelnen, wenn ich durch meinen Konsum die Freiheit der anderen einschränke." Gemeint ist damit auch die Freiheit der Menschen in anderen Erdteilen. Deren Umwelt werde zerstört, um zum Beispiel seltene Erden oder Kobalt abzubauen – für Smartphones, die ständig neu gekauft werden. Eine Systemkritik, die Anny Reiser schon bei Fridays for Future wenig Freunde bescherte. Auch nicht wenige Klimaprotestler wurden vor den Demos von ihren Eltern per SUV abgesetzt und anschließend wieder eingesammelt.
„Konsumverhalten ist auch immer eine Form von Gewalt"
„Das Konsumverhalten hier bei uns ist auch immer eine Form von Gewalt, gegen die Natur, aber auch gegen andere Menschen, und wir müssen uns jetzt selbst die Frage stellen: Sollten wir dieser Gewalt nicht auch mit Gewalt begegnen?" Die Urfrage von Protesten in allen Zeiten. Sie ist für Anny Reiser auch die Frage, wie weit sie selbst gehen will. „Das diskutieren wir in meinen Kreisen, und da steht dann auch immer wieder die Frage im Raum: Macht es Sinn, für seinen Widerstand gegen die Umweltzerstörung auch in den Knast zu gehen?" Das ist der auch in deutschen Sicherheitskreisen gefürchtete Effekt nach drei Jahren massiven Klimaprotesten. „Wir schlagen auf die Trommel, und keiner hört uns wirklich zu, keinen interessiert es. Da muss man dann mehr tun." Für die Umweltaktivistin, die ihr Journalismus- und Geschichtsstudium gerade ruhen lässt, ist das eigentlich keine Option, andererseits fühlt sie sich genötigt, jetzt endlich ein Zeichen zu setzen. Die Studentin beobachtet eine um sich greifende Radikalisierung der Klimaaktivisten. Die passiv gewalttätigen Wegtrage-Aktionen in der Hauptstadt sind zwar mittlerweile üblich. Doch viele ihrer Mitstreiter, auch sie selbst, haben bei den Baggerbesetzungen in der Lausitz, bei den Protesten im Dannenröder oder Hambacher Forst auch die Staatsgewalt körperlich zu spüren bekommen.
Auf Nachfrage, ob als Reaktion darauf brennende SUVs in den Innenstädten Sinn machen, hat Anny Reiser eine klare Position. „Nein, das macht überhaupt keinen Sinn, denn die sind versichert und werden sofort neu produziert. Nicht der brennende, sondern der nicht produzierte SUV ist die Lösung." Was nicht heißen soll, dass nun gleich die ganze SUV-Fabrik angezündet werden soll, sondern dass die Aktivisten der Gesellschaft begreiflich machen wollen, dass man diese Autos einfach nicht braucht, schon gar nicht in der Stadt. Bislang ein unerhörter Wunsch einer enttäuschten Klimaaktivistin, die am Scheideweg ihres eigenen Tuns steht.
Die aktivistische Jugend wird zur „außerparlamentarischen Klima-Opposition" und kommt nun genau da an, wo die Umwelt- und Antiatomkraftbewegung vor fast 50 Jahren auch schon stand. Damals, ohne grüne Partei, gab es noch keine Schützenhilfe aus dem Parlament. Ob es diese für Anny Reiser und ihre Freunde aus dem Reichstagsgebäude in den kommenden vier Jahren geben wird, zeigt sich erst nach dem 26. September.