Erleben wir neue Taliban? In Afghanistan sollen Frauen laut den neuen Machthabern studieren und arbeiten dürfen. Diesen Versprechungen sei nicht zu trauen, sagt Shikiba Babori. Die in Kabul geborene Journalistin und Ethnologin bildete vor Ort in dem Beruf aus.
Frau Babori, es gibt den Vorwurf, demokratische Strukturen in einem Land etablieren zu wollen, in dem mancherorts alleine schon das Trinkwasser fehlt, strahle eine gewisse Arroganz aus. Wie sehen Sie das?
Ich empfinde das als arrogant. Aber auch dieses Vorhaben der internationalen Gemeinschaft ist aus Verzweiflung entstanden. Der komplette Afghanistan-Einsatz entstand aus Aktionismus heraus, der auf den 11. September zurückgeht. Danach mussten die USA und verbündete Länder agieren. Dabei wussten die Invasoren eigentlich, dass Afghanistan das falsche Land war und das Problem anderswo beheimatet war. Afghanistan dient oft als Ort, um Stellvertreter-Kriege auszutragen. 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung sind Bauern, die einfach nur in Frieden leben möchten und gar nicht an diesen politischen Geschichten interessiert sind. Aber auf die Bedürfnisse dieser Menschen wurde nicht eingegangen, denn dann hätte man gesehen, dass diese Menschen beispielsweise kein Essen, kein sauberes Wasser haben und ihnen eine medizinische Versorgung fehlt. Man hätte viel mehr NGOs unterstützen müssen, die vor Ort tätig sind, die Kultur kennen und den Zugang zu Menschen vor Ort haben. Und jetzt, mit dem Abzug des Militärs werden diejenigen, die darunter wieder einmal am stärksten leiden, die afghanische Frauen sein.
Haben Sie zurzeit Kontakt zu Personen, von denen Sie wissen, dass sie sich aktiv auf der Flucht oder in Lebensgefahr befinden?
Ja, ich habe Kontakt zu einigen Personen im Land. Einige haben es zum Glück geschafft, auf die Listen mit denjenigen Personen zu gelangen, die aus dem Land herauskommen. Aber diese Lage ist momentan so unübersichtlich, dass selbst Afghanen, die zwar in Afghanistan gearbeitet haben, aber deutsche Staatsbürger sind, es noch nicht geschafft haben aus dem Land rauszukommen. Teilweise haben sich Gerüchte bewahrheitet, dass die Taliban von Haus zu Haus gingen und gezielt nach solchen Leuten gesucht haben. Vor allem Kolleginnen, die beim Fernsehen gearbeitet haben und von denen man natürlich nicht nur den Namen, sondern auch das Gesicht kannte, wurden bedroht. Ich bin mit Frauen in Kontakt – sowohl in Kabul, aber vor allem mit Frauen außerhalb Kabuls –, die nicht die Möglichkeit haben, sich an Botschaften oder Behörden zu wenden.
Es heißt, in Afghanistan herrsche abgesehen von der sogenannten Ring Road, auf der alle Städte liegen, quasi Niemandsland, in dem nie demokratische Strukturen etabliert werden konnten. Findet man dort noch die alten patriarchalen Strukturen vor?
Definitiv ja. Die Hilfen und Unterstützungen haben teilweise die Städte erreicht in den letzten Jahren. In den kleineren Provinzen und Tälern ist davon nichts angekommen. Ein Thema, das immer gut und gern medial verkauft worden ist, war, wenn eine Frau etwas geschafft hatte. Man brauchte hier im Westen einfach Vorzeigemodelle. Über Jahre wurden Hilfsgelder einfach nicht an entsprechende Bedingungen geknüpft. Es ist unfassbar viel Geld nach Afghanistan geflossen, auch im Namen der Befreiung der Frauen, was diese allerdings nie erreicht hat. Und das wusste man. Auch gerade jetzt hat das Land mit Korruption zu kämpfen, die durch diese Gelder noch nach oben geschnellt ist.
Hat sich vor diesem Hintergrund für afghanische Frauen durch die Taliban überhaupt etwas verschlechtert?
Die Situation wird natürlich jetzt für diejenigen Frauen schlimmer, bei denen in den letzten 20 Jahren eine Entwicklung stattgefunden hat. Frauen, die in kleinen Dörfern wohnen, werden den Unterschied wahrscheinlich nicht unbedingt merken. Aber die Generation, die in den letzten 20 Jahren groß geworden ist und nicht einmal die letzte Taliban-Herrschaft erlebt hat, die wird es spüren. Die afghanische Bevölkerung ist mit einem Altersdurchschnitt von 18 oder 19 Jahren eine sehr junge Bevölkerung. Und sie kennt die Taliban gar nicht. Das heißt, die sind in den Städten mit diesem positiven Aufschwung aufgewachsen und werden jetzt auch von den Taliban dafür bestraft.
Wie lässt sich der derzeit konziliante Ton der Taliban bewerten?
Soweit ich das einschätzen kann, sind das bloß Lippenbekenntnisse, gerade weil die Situation der Frauen sowohl in den Orten, in denen die Taliban bisher waren sehr prekär ist – Mädchen können beispielsweise nicht zur Schule gehen und so weiter – als auch in den Orten, die sie jetzt nach und nach einnehmen. Damit zeigen sie ja, dass sie die Zeit wieder zurückdrehen wollen. Aber die Taliban sind keine homogene Gruppe, die eine Ideologie hat, irgendetwas ankündigt und das dann auch so realisiert. Sondern da gibt es viele Richtungen und viele Ideen oder eben auch nicht. Diese Personen sind bewaffnet, zum Großteil ungebildet und agieren nach Lust und Laune. Ich halte daher von ihren Versprechungen nichts, einfach durch das, was ich sehe und im Land beobachte. Auch die Verhandlungen sind nicht neu und finden schon seit Jahren statt. Sie basieren auf Hilflosigkeit, da man erkannt hat, dass die Ziele, die man verfolgt hatte, nicht erreicht werden konnten.
Inwiefern?
Was ich in Deutschland in den Medien zu Afghanistan gehört hatte, war eher einseitig und traurig. Im Land habe ich aber Leute erlebt, die nach dem Bürgerkrieg und der Taliban-Ära wieder draußen auf der Straße waren und Musik gehört haben. Es war eine sehr lebendige und motivierte Gesellschaft, die Leute lachten und feierten Feste. Dadurch, dass ich Fārsi, eine der Sprachen des Landes, spreche, war es mir möglich, mit Frauen zu sprechen, was viele meiner Kollegen nicht konnten. Da war es für mich klar und teilweise auch eine Art Notwendigkeit, jedes Jahr nach Afghanistan zu reisen. Seit 2003 bin ich mehrmals im Jahr in Afghanistan gewesen.
Wie sah Ihre Arbeit vor Ort aus?
Bei den zahlreichen Reisen habe ich verschiedene Projekte betreut und realisiert. Zum Beispiel habe ich mit einer afghanischen Fotografin gemeinsam eine Ausstellung über Waisenkinder in Afghanistan organisiert. Durch den Krieg gibt es viele Waisen, die von vielen extremistischen Gruppen – egal welcher Couleur – für ihre Zwecke rekrutiert werden. Die Taliban von heute sind die Kinder, die damals in den Grenzgebieten zu Pakistan in den Koranschulen aufgenommen worden waren. Man hat sich um diese Kinder gekümmert, aber hat sie eben auch politisch instrumentalisiert. Darüber hinaus habe ich für die Deutsche Welle Akademie in Afghanistan Journalistinnen ausgebildet. Vor allem auch Frauen, die kein Englisch und daher viele Kurse nicht besuchen konnten. Auch dadurch hatte und habe ich viel Kontakt zu Kollegen in Afghanistan. Viele haben keine internationalen Arbeitsstellen gefunden – auch aufgrund von fehlenden Englischkenntnissen. So entstand bei mir die Idee, vor Ort in Afghanistan ein Netzwerk aus Journalistinnen aufzubauen, die mich tagesaktuell über Sachverhalte informieren. Ich kann meine Kontakte zu den Redaktionen in Deutschland nutzen, die Informationen in hier geläufige Formate und Inhalte übersetzen und den Redaktionen diese entsprechend anbieten. Das mache ich seit 2006 mal mehr, mal weniger, denn leider rückt Afghanistan in den Medien immer nur dann in den Fokus, wenn etwas Schlimmes passiert ist.
Welche Rolle spielten Frauen in dem Zeitraum?
Während der Besatzungszeit der letzten 20 Jahre war es politisch sehr gewollt, dass man positive Veränderungen und die in dieser Zeit erzielten Erfolge herausstellt. Unabhängig von politischen Zielen in Afghanistan werden immer Frauen benutzt, um politische Vorhaben zu legitimieren. Jede Macht, ob die Sowjets, die Nato-Mächte oder nun die Taliban, jede politische Entwicklung benutzt die afghanischen Frauen. Auch während des Bürgerkriegs in den 90er-Jahren haben die Männer der verschiedenen Gruppierungen Frauen benutzt, um sich gegenseitig in ihrer Ehre anzugreifen und zu erniedrigen. Da wurden reihenweise Frauen vergewaltigt, misshandelt, verstümmelt und ermordet. Dann kamen die Taliban, die Frauen insofern geschützt haben, dass sie nicht einfach der Willkür der anderen Gruppierungen ausgesetzt waren. Aber diese waren wiederum so streng in ihrer Interpretation der Scharia, dass Frauen nicht mehr das Haus verlassen durften und sie bestraft wurden, wenn sie es doch taten. Dann kamen die Nato und die Verbündeten, die sich jahrelang gar nicht im Klaren darüber waren, ob sie nun das Land demokratisieren oder die Taliban vertreiben wollen. Auch bei ihnen stand wieder die Befreiung der afghanischen Frauen im Fokus, und diese wurden benutzt, um die politische Agenda durchzubringen. 2001, nach dem 11. September, hat man plötzlich viel darüber berichtet, welches Leid Frauen unter den Taliban erlebt haben; dabei war das alles längst geschehen. Und ich habe mich gefragt: Wenn die Verbündeten das wussten, warum haben sie nichts dagegen getan? Auf dem Cover des „Time Magazine" von 2010 ist eine afghanische Frau abgebildet, der man die Nase abgeschnitten hat. Und der Titel von dem Cover lautet: „Das passiert, wenn wir Afghanistan verlassen." Das hat mich geärgert, weil es so deutlich machte, wie man erneut und so offensichtlich Frauen benutzte. Aus meiner Sicht wäre der Titel „Das passiert, obwohl wir seit neun Jahren in Afghanistan sind" viel logischer gewesen.
Was hat all das mit afghanischen Frauen gemacht?
An viele Versprechungen, die Afghaninnen im Land selbst gemacht wurden, hat man sich nicht gehalten – vor allem nicht in kleineren Provinzen und kleineren Bezirken. Das hat dazu geführt, dass sehr viele Selbstmord begangen haben. Es ist auch meine Sorge, dass diese Zahl jetzt weiter steigen wird. Der leichteste Weg für afghanische Frauen, sich selbst umzubringen, ist, sich zu verbrennen – denn Öl und Feuer gibt es in jedem Haus. Ich habe einmal mit einem Arzt in Herat, in Westafghanistan, gesprochen, der diese Frauen behandelt. Er sagte, teilweise hätte er ihnen in ihrem Zustand lieber den Tod gewünscht, denn eine Chance auf Heilung besteht selten. Gleichzeitig ist Selbstmord im Islam verpönt, weshalb die Familien dieser Frauen ihren Selbstmord als Schande betrachten. Die neue Generation an Afghaninnen, die es in den letzten 20 Jahren geschafft haben, wenigstens teilweise eine Art Zivilgesellschaft auf die Beine zu stellen, die hat auch den Rückhalt ihrer Familie. Aber für die Mehrzahl der Frauen in Afghanistan gilt das leider nicht.
Ist es überhaupt möglich, einer Kultur oder Ethnie, die auf anderen Normen und Werten als den westlichen basiert, demokratische Strukturen nahezubringen, wie es dort in den letzten 20 Jahren der Fall war?
Für mich stellt sich nicht die Frage, für mich war es von vornherein schier unmöglich. Das heißt, bestimmte gesellschaftliche Strukturen, die sich im Alltag bis hin zur Politik ausbreiten – familiäre Strukturen, gesellschaftliche Strukturen, kulturelle Werte – sind unmöglich zu verändern. Um ehrlich zu sein, ich erkenne auch den Sinn nicht, warum man sie verändern sollte. Demokratische Strukturen nach westlichem Verständnis können nur exportiert werden, wenn man jeden Einzelnen isoliert und kulturell entwurzelt. Und das ist eine absurde Vorstellung.