Das Jubiläum 100 Jahre Groß-Berlin sollte 2020 gefeiert werden, doch wegen Corona war die dazugehörige Ausstellung „Chaos & Aufbruch" lange Zeit geschlossen. Noch bis Monatsende zeigt das Märkische Museum Visionen für eine Metropole von einst und heute.
Das futuristische Familien-Haus teleportiert und materialisiert sich an jedem Wunschort, und der Berliner Fernsehturm ist längst Hauptenergiequelle des Stadtmodells „Complex City Berlin" im Märkischen Museum Berlin. Dieses fantastische, bunt visualisierte Stadtmodell stellen sich Jugendliche aus drei Berliner Stadtbezirken für die Zukunft vor. Die Schüler entwickelten im Rahmen der Ausstellung „Chaos & Aufbruch – Berlin 1920|2020" als Junior-Kuratoren ihre Ideen zu der Frage, wie Leben und Alltag im Jahr 2120 aussehen könnten. Dies ist nun ein Teil der Schau im Märkischen Museum, in der mit dem Blick auf die Vergangenheit auch Stadtimpressionen aus der Gegenwart und Visionen für die Zukunft gezeigt werden. Vor 100 Jahren war mit dem „Groß-Berlin-Gesetz" am 1. Oktober 1920 die Einwohnerzahl Berlins schlagartig von 1,9 auf 3,8 Millionen gestiegen. Die Zustimmung für das Gesetz war knapp. Mit einer schwachen Mehrheit von 165 zu 148 Stimmen stimmte der Preußische Landtag letztlich doch für eine gemeinsame Entwicklung Berlins – 27 Gutsbezirke, 59 Landgemeinden und sieben kreisfreie Städte wurden verwaltungstechnisch eingemeindet. Aus dem alten historischen Stadtgebiet Berlin entstanden die sechs Bezirke Mitte, Tiergarten, Wedding, Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg, die „neuen Bezirke" wie Schöneberg, Tempelhof oder Reinickendorf entstanden aus zusammengeschlossenen Gemeinden und ehemals kreisfreien Städten. Jetzt war Berlin nach London und New York eine der bevölkerungsreichsten Städte und mit 878 Quadratkilometern nach Los Angeles die flächengrößte Metropole der Welt.
Schlagartig doppelt so viele Einwohner
Die Notwendigkeit, eine einheitliche Planung für die vor 1920 eigenständigen Kommunen zu forcieren, hatte man bereits im 19. Jahrhundert gesehen, denn seit 1820 war Berlin rasant gewachsen. Dennoch gab es für den Ballungsraum weder gemeinsame Infrastruktur, noch koordinierte Stadtplanung. Zehntausende Arbeiter wurden zu Pendlern, fuhren täglich beispielsweise ins Siemens-Werk nach Siemensstadt oder zu den Borsig-Werken nach Tegel. Zwar entwickelte sich das Verkehrssystem in den Gemeinden, aber alle Entscheidungen traf man selbstgefällig, kommunenbezogen und oft an der eigenen Stadtgrenze endend. 1910 beförderten insgesamt 15 Straßenbahngesellschaften ihre Fahrgäste mit unterschiedlichen Tarifsystemen und nicht aufeinander abgestimmten Fahrplänen. Ein mutiger Architekten-Wettbewerb „Groß-Berlin" brachte 1906 Ideen, aber keine Änderung. 1912 unternahm der „Zweckverband Groß-Berlin" den Versuch, bessere Abstimmungen der Gemeinden untereinander zu erreichen – vergeblich. So wurde die Frage nach einem einheitlichen Vorgehen, einer zeitgemäßen Verwaltung des Ballungsraums rund um Berlin immer brisanter. Das „Groß-Berlin-Gesetz" und die Bildung der neuen Verwaltungseinheiten sorgten 1920 schließlich dafür, dass nun eine einheitliche Stadtpolitik und Stadtplanung möglich waren. Prompt begann die städtische Infrastrukturentwicklung zu boomen. Innerhalb eines Jahrzehnts wuchs das Streckennetz der U-Bahn um 100 Prozent, der Verkehr auf den Straßen nahm rapide zu. Künstler wie Oskar Nerlinger oder Schriftsteller wie Egon Erwin Kisch stellten die sich rasant entwickelnde Metropole dar. Nerlinger malte „Die Straßen der Arbeit", Kisch beschrieb 1923 in seiner Großstadtreportage „Die Untergrundbahn".
Mit den Entscheidungen des Verkehrsstadtrats Ernst Reuter, die bis dato privaten Verkehrsträger wie Straßenbahnen und U-Bahnlinien in der kommunalen Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft (BVG) zusammenzufassen, entstand 1928 das größte Nahverkehrsunternehmen der Welt. Fahrgäste konnten jetzt unproblematisch umsteigen ohne jeweils neue Fahrscheine lösen zu müssen. Auch der Straßenverkehr mit der neuen Entwicklung hin zur individuellen Motorisierung erfuhr eine Neuorganisation, die jetzt – 100 Jahre später – hinterfragt wird.
Die Ideen der Besucher werden gesammelt
Wie aber lebten die Menschen im neuen „Groß-Berlin"? 1920 herrschte in Berlin Wohnungsnot und die Wohnbedingungen in teilweise dunklen und feuchten Kellerwohnungen waren schlecht, die Mieten hingegen die höchsten im Deutschen Reich. Als Reaktion förderte der Staat ab 1924 den sozialen Wohnungsbau, eine neue Bauordnung verbot Kellerwohnungen und übervölkerte Wohnquartiere. Bis 1932 entstanden so mehr als 170.000 Wohnungen, anfangs konnten die sich nur Beamte oder Angestellte leisten, doch durch den Einstieg von Genossenschaften oder Wohnungsbaugesellschaften wurden die neuen Wohnungen erschwinglich – auch für niedrige Einkommen. Beispiele für die damals entstehenden Siedlungen sind unter anderen die Hufeisensiedlung oder die Siedlung Schillerpark in Berlin-Wedding, die jetzt zum Unesco-Welterbe gehören. Auch die Wohnbedingungen änderten sich gravierend. Wer in einem Gebäude des Neuen Bauens wohnt, wird Teil einer architektonischen Gesamtkomposition. Die Einrichtungen in den neuen Wohnungen zum Beispiel der Waldsiedlung Zehlendorf dokumentieren das. Der multifunktionale Küchenschrank mit Klapptisch und Hocker von Bruno Taut erlaubt neue zweckmäßige Arbeitsabläufe in den modernen Küchen der 1920er-Jahre. „Aus der modernen Wohnung muss alles entfernt werden, was nicht zum Leben notwendig ist", fordert Bruno Taut. Eine moderne Lebensführung im Alltag soll so zu einer Erneuerung der Gesellschaft beitragen. Berlin entwickelt sich indes rasant weiter. Magistrat und Bezirke planen großzügige Gemeinschafts- und Grünanlagen, Sportstätten und Volksparks. Bis 1930 entstehen vier Quadratkilometer neue Flächen für sportliche Aktivitäten. Durch seinen Ausbau wird das Strandbad Wannsee dann zum größten Freibad Europas.
All das zeigt die Ausstellung „Chaos & Aufbruch" im Märkischen Museum – mit den Themenschwerpunkten Wohnen, Verkehr, Erholung, Verwaltung sowie Anbindung an das Umland. Mit alten Fotos und Grafiken, mit Werbeplakaten oder Videoinstallationen. Eine zweite Ebene setzt sich mit der Stadtgeschichte, ihren Auswirkungen auf die heutige Situation und möglichen Lösungsansätzen auseinander. Dazu gibt es sechs sogenannte „Impuls-Projekte".
So beschäftigt sich beispielsweise Oliver Geyer mit der Frage „Wie könnte eine moderne Verwaltung aussehen?" Die Berliner Wohnsituation des 21. Jahrhunderts findet in den fantasievollen Stadtmodellen und Wohnobjekten der „Complex City Berlin" zukunftsorientierte Formen. Ideen dazu können aber auch die Besucher selbst entwickeln, die Stadtwerkstatt, ein zentraler Treffpunkt im Obergeschoss, bietet Gelegenheit, sich auszutauschen. Welche Wünsche und Träume existieren für diese Stadt? Was soll oder muss sich ändern? Was betrifft mich? Alle Antworten und Beiträge der Besucher werden gesammelt und so zum Teil einer Installation.