Der italienische Dichter und Philosoph Dante Alighieri starb am 14. September 1321 – vor 700 Jahren. Seine „Commedia" zählt zur Weltliteratur. Von Franziska Meier, Professorin für Romanische Literaturwissenschaft und Komparatistik, sind zwei Bücher über die „Göttliche Komödie" erschienen.
Frau Prof. Dr. Meier, Dante nannte sein Werk „Commedia". Woher kommt Divina, der Titel „Göttliche Komödie"?
Den Zusatz „Divina" benutzte im 14. Jahrhundert erstmals Boccaccio in seiner Vita Dantes. Ende des 16. Jahrhunderts ist er richtig dazugekommen – heute würde man sagen aus Marketing-Gründen. Das war damals eine Mode, so wie man heute cool sagt. Zu dem Zeitpunkt hatte die Dante-Rezeption eine Flaute, somit war das eine Möglichkeit, ihn wieder attraktiv zu machen.
Der bedeutendste Roman der französischen Literatur, ein Zyklus aus sieben Bänden und Tausenden Seiten, Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist vielen dem Titel, aber dem Inhalt nach wenigen bekannt. Lässt sich Ähnliches auch für Dantes „Göttliche Komödie" sagen?
Ja, ich würde sagen, das ist ein Topos geworden: Wenig gelesen, viel gerühmt und viel darüber gesprochen. Die „Göttliche Komödie" ist in Fragmenten rezipiert worden. Gleichzeitig hatte man den Eindruck, dass das ein in sich geschlossenes Meisterwerk ist. Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Lesen, sei es, dass man nur das Inferno gelesen hat oder einzelne Gesänge, und einer Vorstellung von einem perfekten Kunstwerk, und dem Namen Dante, der alles zusammenhält. Es ist ein ähnliches Phänomen wie bei Proust.
Die „Göttliche Komödie" besteht aus 100 Gesängen. Dante verfasste die 14.233 Verse nicht in Latein, sondern in der Volkssprache. Warum?
Diese Frage haben sich schon damals die Zeitgenossen gestellt, und wir stellen sie uns heute noch. Die italienischsprachige Literatur hat ja vorher begonnen – in Gedichten. Aber mit Dante hat sie dennoch ihren großen Anfang. Die Zeitgenossen haben ihm gesagt: „Warum wirfst du Perlen vor die Säue?" Die Säue können sozusagen nur die Volkssprache, nicht Latein. Weshalb er das Vulgäre benutzt hat? Einerseits aus besonderer Liebe. Er hat gesagt: „Ohne diese Sprache hätten sich meine Eltern nicht kennengelernt. Ich habe die ersten Worte darin gesprochen." Andererseits war er überzeugt – das beweisen ja auch seine Werke – dass man in dieser gesprochenen Sprache über sehr komplexe Dinge schreiben kann.
„Auf der Hälfte des Weges unseres Lebens fand ich mich in einem finsteren Wald wieder, denn der gerade Weg war verloren", lautet der erste Satz der Prosaübersetzung von Hartmut Köhler. Sehen Sie in der „Göttlichen Komödie" ausschließlich eine literarische oder auch eine spirituelle Bedeutung?
Man kann die „Divina Commedia" in den verschiedensten Weisen lesen. Sie ist nicht nur als Literatur gelesen worden, vielmehr ist sie auch eine Art Vademecum (Anm. d. Red.: hilfreicher Begleiter) geworden. Nicht ohne Grund hat man die erste Terzine als einen Vorgriff auf die Midlife Crisis bezeichnet. Darüber hinaus kann man die „Divina Commedia" als spirituelle Reise aus einer Phase von Desorientiertheit in die Tiefe hinabsteigend, danach sublime Höhen erreichend, lesen. Ob Sie das Spirituelle – im engeren Sinne – christlich, oder – im weiteren Sinne – mystisch sehen wollen: Das steckt in diesem Werk alles drin.
Erst in der Renaissance entdeckt der Mensch sich als Individuum und das „Ich". Die „Göttliche Komödie" rechnet sich jedoch dem Mittelalter zu. War Dante Alighieri ein Avantgardist?
Dante Alighieri schreibt in einer Schwellensituation. Das Mittelalter läuft im 14. Jahrhundert in Italien aus, es geht zu Ende. Dante war ein enorm sensibler, kluger Beobachter vieler und einschneidender Veränderungen. Gleichzeitig war er jemand, der, sozusagen rückwärtsgewandt, einer Vergangenheit nachtrauerte und hoffte, dass man die wiedergewinnen konnte. Es liegt eine merkwürdige Spannung in seinem Werk und seinem Denken. Eine Spannung zwischen Rückwärtsgewandtheit und gleichzeitig einem Tun, das revolutionär war. Heutzutage würde man es innovativ nennen. In diesem Sinne hat er vieles vorweggenommen. Manches haben spätere Leser hineingedacht, dazu gehört auch diese Form von Individualisierung, die Dante selbst, aber auch etliche Figuren, denen er im Jenseits begegnet, betrifft.
Der Leser begleitet den Wanderer auf seiner Reise durchs Jenseits. Dante war aus seiner Heimatstadt Florenz verbannt und vogelfrei – bei Ihnen lässt sich nachlesen, wie es dazu kam. 15 Jahre schrieb er im Exil an der „Göttlichen Komödie" – er war ein Wanderer. Wandelte er seine missliche Lage in Produktivität um?
Der Dante, den wir heute schätzen, ist ein Produkt dieser Erfahrung. Nirgends war er mehr zu Hause. Florenz ist ihm versperrt. Diese Literatur ist sicherlich eine großartige Kompensationsleistung. Aber vielleicht steckt auch ein bisschen Rache gegenüber Leuten, die ihm übel gesonnen waren, darin. (lacht) Irgendwann ist er über niedrige Beweggründe wie Rache hinausgegangen. Die „Divina Commedia" weist viele Ambivalenzen auf, obwohl alles sehr klar und hierarchisch geordnet zu sein scheint. Wenn man näher hinschaut, sieht man, dass diese Fragilität, die er im Exil erfahren hat, sich in diesem Text niederschlägt und immer wieder gebändigt werden muss. Das ist es, was uns heute enorm anzieht, weil wir das selbst erleben.
Dantes Autograf der „Göttlichen Komödie" existiert nicht. Das Werk ist durch Abschriften über die Jahrhunderte zu uns gekommen. Wie erreichte es Deutschland?
Das ist nicht vollkommen klar. Humanisten aus Nürnberg haben bei ihrem Studium in Italien von diesem Dante gehört. In der „Schedelschen Weltchronik", auch Nürnberger Chronik genannt, taucht der Name Dante Alighieri Ende des 15. Jahrhunderts auf. Das bedeutet noch nicht, dass sie das Werk gelesen hatten. Sein Name gelangte schon früher über die Alpen als die Texte selbst. Ende 15., Anfang 16. Jahrhundert ist erstmals dieses Werk in der Originalfassung nach Deutschland gekommen. In der Zeit der Weimarer Klassik erscheinen Übersetzungen. August Wilhelm von Schlegel übersetzte Teile. Schiller und Goethe beschäftigen sich mit Dante. Das Interesse an Dante wird geradezu zu einer Manie. Es geht sogar so weit, dass man am Ende des 19. Jahrhunderts eine abenteuerliche Überlegung anstellt und behauptet, Dante sei von deutscher Abstammung.
Sie forschen seit 15 Jahren zu Dante und bezeichnen die „Göttliche Komödie" als „Jahrtausendbuch". Was fasziniert Sie daran?
Ich habe die „Divina Commedia" als Jahrtausendbuch bezeichnet, weil es – nach 1300 geschrieben – auf 1.000 Jahre zurückschaut, die Antike und das Mittelalter in sich aufnimmt und in eine neue Form zwingt. Mich faszinieren zwei grundsätzliche Aspekte. Sich mit Dante zu beschäftigen ist eine ununterbrochene Herausforderung. Man ist immer wieder erstaunt, was man alles entdecken kann. Es gibt kaum einen Autor, der derart genial war. Als Forscher lebt man in solchen Funden und wächst daran, auch selbst, innerlich. Und das andere, was mich interessiert, sind die 700 Jahre Rezeptionsgeschichte, die mittlerweile global ist. In der gesamten westlichen Kulturgeschichte kommt Dante immer irgendwo vor. Man bezieht sich auf ihn. Er ist der Ursprung, der Anfang, der Vater, der Stifter – es geht bis in die Bildende Kunst, die Musik, nach Afrika, nach Japan, überallhin. Dass ein Autor des ausgehenden Mittelalters eine derartige Aktualität in jeder Zeit aufweist, das ist für mich eine ewige Frage, und, wie man das beantworten kann – das fasziniert mich.