Sechs Kreuze werden von den Berliner Wählern am 26. September erwartet: Erst- und Zweitstimme für den Bund und noch mal so viel für das Land. Ein Kreuzchen für die Bezirksverordnetenversammlung und noch eins für das Volksbegehren zur Enteignung. Die Menge an Papier, die es durchzuarbeiten gilt, ist beträchtlich.
Vier für Berlin. Tatsächlich haben sie alle noch eine Chance, als Regierender Bürgermeister oder Bürgermeisterin ins Rote Rathaus einzuziehen: Bettina Jarasch, Kai Wegner, Klaus Lederer, Franziska Giffey. Auch wenn Giffey mit Abstand auf dem Bundestrend für Olaf Scholz voraus segelt. Der CDU-Kandidat Kai Wegner, den alle für unbekannt hielten, hatte sich laut Prognose einmal achtbar auf die zweite Stelle herangekämpft. Grüne und Linke rangeln derzeit zwar um dritte und vierte Plätze. Wobei aber noch jede Umfrage ihre zwei, drei Prozent Fehlerpunkte hat.
Ob es mit Rot-Rot-Grün so weitergeht wie bisher, ist eher ungewiss. Ein Unsicherheitsfaktor ist die ewige Uneinigkeit in der rot-rot-grünen Dreierkoalition, die sich immer wieder eruptiv entlädt. Werner Kraft, der Landeschef der Grünen, hat unlängst Giffey vorgeworfen, sie wolle mit CDU und FDP kungeln. Giffey selbst zieht rote Linien zu dem Lieblingsprojekt der Linke, der Volksabstimmung über die Enteignung der großen Wohnungsbaukonzerne. Die Grünen beklagen ständig, dass die SPD die Mobilitätswende verschleppt. Linke wie Grüne sind gegen den Ausbau der A 100, den die SPD befürwortet.
Dabei brauchen sie einander, wenn es für die Regierung reichen sollte: Gerade die Linke stünde ziemlich belämmert da, wenn ihr die beiden anderen nicht mehr aufs Pferd helfen. Und auch die Grünen können mit einem Bündnis mit CDU und FDP drohen, wenn sich die SPD mit Franziska Giffey zu breit macht.
Natürlich ist das alles Spekulation, aber die Berliner Politik war immer schon für Überraschungen gut – man denke nur an die Abwahl von Eberhard Diepgen (CDU). Er musste 1989 Walter Momper (SPD) Platz machen, der sich allerdings nur bis Januar 1990 halten konnte und wiederum von Diepgen ersetzt wurde.
Die Berliner sind eigentlich hart im Nehmen. Und es dauert lange, bis ihnen der Kragen platzt. Diese Koalition ist nicht beliebt. Dass nach Jahren vergeblicher Versuche, die Verwaltung zu modernisieren, immer noch kein Termin zu bekommen ist, wenn man den Pass verlängern oder sein Neugeborenes anmelden möchte, hat viele erbittert. „Gutes Regieren" stand im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag. Passiert ist nichts.
Wie hält man eine Stadt voller Widersprüche aus?
Berlin gibt von allen Bundesländern das meiste Geld pro Schüler aus, aber bei Lernerhebungen landet das Land stets auf einem der letzten Plätze. Seit fünf Jahren wird über neue Fahrradwege, Schnelltrassen und sichere Kreuzungen diskutiert, gebaut wurden gerade einmal 35 Kilometer. Parks werden gegen Abend geschlossen, weil sie nach jeder Partynacht völlig zugemüllt zurückgelassen werden. U-Bahnhöfe sind verdreckt, Junkies schmoren schon morgens in aller Öffentlichkeit das Heroin für ihre Joints auf Alufolie. Legendär sind die Geschichten über Wohnungssuchende, die auf einmal mit hundert anderen im Flur stehen, nur um mit einem Makler zu sprechen. Dabei werden überall neue Wohnkomplexe hochgezogen – nur bezahlen kann das niemand. Berlin hat die höchsten Mietsteigerungen von allen deutschen Städten.
Auf der anderen Seite verbreitet die Kultur nirgendwo anders so viel Glanz und Glamour: Drei Opernhäuser, die Philharmonie, das neue Humboldt-Forum, die Wiedereröffnung der Nationalgalerie von Mies van der Rohe, die reichhaltigen Museen, Bibliotheken, Galerien – ihre Bedeutung war während der Corona-Zeit verdeckt, jetzt erblüht alles wieder neu. An den beiden Universitäten und Hochschulen sind 200.000 Studierende eingeschrieben – sie kommen aus aller Welt. Berlin hat zwei Bundesligaclubs, feiert jährlich Leichtathletikmeisterschaften und – ausgerechnet am Wahltag – den Berlin-Marathon. Das Nahverkehrssystem ist brillant ausgebaut und preiswert, vom äußersten Westen bis in Mitte braucht es eine halbe Stunde, und auch der neue Flughafen mausert sich so langsam zu einem echten Luftverkehrsknotenpunkt. Immer noch baut in Berlin BMW Motoräder, Siemens Turbinen, Rolls Royce Motoren und BASF Kunststoffverkleidungen, forschen Wissenschaftler an vielen Standorten nach Mitteln, die Umwelt und Gesundheit helfen. Nirgends haben sich mehr Start-ups gegründet als in Berlin, die mit öffentlichen und privaten Mitteln in lukrative Geschäfte eingestiegen sind. Und trotz allem ist Berlin für seine Toleranz berühmt: Wer hier auffallen möchte, muss sich schon sehr anstrengen.
Der Yuppie und die Streetkids, der Spitzengastronom und der Dönermann – was hier zusammenkommt, zeigt, wie widersprüchlich die Stadt ist. Es sind die Parteien, die das aushalten und austarieren müssen. Und darum sind sie nicht zu beneiden. Es hängt von der Stimmung in der Stadt ab, ob Fehler schneller aufgebauscht werden als Erfolge gefeiert. Gelingt es einem Senat, Zuversicht zu verbreiten, ist das schon die halbe Miete. Rot-Rot-Grün hatte damit zuletzt große Probleme.