Keine der beiden traditionellen Volksparteien wird am 26. September über die 30 Prozent hinauskommen. Die Union steht nach den jüngsten Prognosen mit nur 20 Prozent Zustimmung vor einer bitteren Niederlage. Welche Konsequenzen hat das für die Regierungsbildung?
Waren das beschauliche Zeiten: Union und SPD erreichten bei den Bundestagswahlen 1972 (90,7 Prozent) und 1976 (91,2 Prozent) zusammen jeweils mehr als 90 Prozent der Stimmen – bei einer Wahlbeteiligung von gut 90 Prozent. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 erhielten beide mit 44,7 Prozent bundesweit zum ersten Mal keine absolute Mehrheit mehr. Ein derartiges Ergebnis könnte der 26. September 2021 erneut bescheren. Auch wenn niemand den Ausgang der Wahl kennt, deuten die Meinungsumfragen darauf hin, dass weder Union noch SPD auf mehr als 25 Prozent der Stimmen kommen. Es würde dann für eine absolute Mehrheit der beiden Volksparteien nicht reichen.
Augenfällig in den neuen Bundesländern
Bei der letzten Bundestagswahl 2017 waren die Unionsparteien noch auf 32,9 Prozent und die Sozialdemokraten auf 20,5 Prozent gekommen. Dabei fielen bereits diese Ergebnisse schlechter aus als die von 2013. Damals erzielten CDU und CSU noch 41,5 Prozent und Sozialdemokraten 25,7 Prozent.
Offenbar ist die Schwäche der Volksparteien notorisch. Sie ist besonders augenfällig in den neuen Bundesländern. So blieben CDU und SPD bei den Landtagswahlen 2019 in Thüringen zusammen unter 30 Prozent, Die Linke und die AfD hingegen heimsten 54,4 Prozent ein. 1999 hatte die CDU in diesem Bundesland 51,0 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt. Aber selbst bei den Landtagwahlen in Baden-Württemberg 2021 fuhren die beiden Volksparteien nur 35,1 Prozent ein, Grüne und Liberale immerhin 43,1 Prozent. 1976 lautete das Resultat für die CDU in diesem Bundesland: 56,7 Prozent! Die herkömmlichen Milieus erodieren. Die Zahl der christlich gebundenen Wähler geht ebenso zurück wie die der gewerkschaftlich gebundenen.
Der Lüneburger Politikwissenschaftler Michael Koß verweist auf eine interessante Parallele. In Deutschland und auch in Österreich kamen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg demokratische Mehrheiten nur schwer zustande. Deutschland und Österreich waren „verspätete Nationen", oft in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt und tiefer gespalten als die meisten anderen Staaten. Österreich ist heute in mancher Hinsicht Vorreiter für Wandel: wegen der Beteiligung der rechtspopulistischen FPÖ sowie der Grünen an der Regierung.
Koß („Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen") will vor allem drei Fragenkomplexe behandeln: Gibt es noch eine Mehrheit für die Demokratie? Wie steht es um die Mehrheitsbildung im Parteiensystem? Und tragen Minderheitsregierungen zu handlungsfähigen Mehrheiten bei? Sein treffendes Ergebnis: Die Demokratie ist weder in Deutschland noch in Österreich ungeachtet problematischer Tendenzen in Gefahr. Hingegen wird es immer schwieriger, einigermaßen homogene Koalitionen zu bilden. Daher sind Regierungsbündnisse, die von Fall zu Fall ihre Mehrheiten suchen, eine akzeptable Lösung.
Heute haben Zersplitterung wie Radikalisierung zugenommen: einerseits durch die aus der SED hervorgegangene Partei Die Linke und andererseits durch die 2013 ins Leben gerufene Alternative für Deutschland, eine dezidierte Rechtspartei, die sich in den letzten Jahren radikalisiert hat. Wir haben im Bund nun ein Sechsparteien-Parlament. Mit den Freien Wählern, die bereits in einigen Landtagen vertreten sind, könnte sich eine siebte Partei bundesweit etablieren. Allerdings fällt das Wahlverhalten angesichts einer nur wenig ausgeprägten Parteiidentifikation sehr unbeständig aus. 1990 scheiterten die Grünen an der Fünfprozenthürde, 2002 die Postkommunisten und 2013 die Liberalen. Ist es wirklich ausgeschlossen, dass die AfD, die FDP oder Die Linke demnächst in große Schwierigkeiten geraten könnten? Die Rolle der Spitzenkandidaten für das Votum der Bürger nimmt einen immer höheren Stellenwert ein.
Der augenscheinliche Niedergang der Volksparteien muss kein Niedergang der Demokratie bedeuten. Die Entwicklung einer Konsensdemokratie stärker in Richtung einer Konkurrenzdemokratie ist für die Lebendigkeit des Gemeinwesens kein Nachteil.
Allerdings darf kein Freund-Feind-Denken in die Politik einkehren. Jüngst hat auch Heribert Prantl, einer der profiliertesten Journalisten Deutschlands, die Schwäche der großen Parteien hervorgehoben, ohne deswegen die Demokratie als geschwächt anzusehen. Für ihn sind Volksparteien mit der „Zeit der VW-Käfer" in Verbindung zu bringen. Aber gehören sie wirklich der Vergangenheit an?
Mehr Zersplitterung und Radikalisierung
Die Vielzahl der Parteien ist der eine Aspekt. Der andere damit zusammenhängende: die Koalitionsbildung. Früher wusste der Wähler: Die Union und die Liberalen streben zusammen eine Koalition an wie die SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Heute gibt es dafür keine arithmetischen Mehrheiten. Dafür haben sich die politischen Mehrheiten verschoben.
Gab es früher klare politische Lager, ist das heute weniger der Fall. Angesichts der heterogenen Koalitionen fällt das Plädoyer für Minderheitsregierungen mit wechselnden Mehrheiten, wie es sich etwa Michael Koß zu eigen macht, nachvollziehbar aus, wenngleich im Bund verlässliche Mehrheiten für größere Stabilität sorgen. Allerdings ist die fehlende Koalitionsfestlegung der Parteien vor der Wahl ein Problem. Wer für eine Partei votiert, weiß nicht, was mit seiner Stimme passiert. Nehmen wir das Beispiel der Grünen.
Sie schließen eine schwarz-grüne Regierung nicht aus, auch keine grün-rot-gelbe und keine grün-rot-rote. Das Wählervotum wird damit entwertet. Nach der Wahl wird erst über die jeweilige Koalition entschieden, ohne dass der Bürger ein Mitspracherecht besitzt.
Vielleicht wäre es in der Tat besser, die Parteien würden sich vor der Wahl für eine spezifische Koalition aussprechen. Sollte das stärkste Bündnis keine regierungsfähige Mehrheit auf sich vereinigen, ließe sich eine Minderheitsregierung bilden. Auf diese Weise hätte der Wähler das letzte Wort. Und: Es könnte eine Regierung aus einem politischen Lager gebildet werden.