26 Prozent in Umfragewerten im Juni – nur noch eine Momentaufnahme. Von der einstigen Kanzlerinnenoption ist bei den Grünen kaum etwas geblieben. Wichtig für eine künftige Regierung werden sie dennoch.
Das Staunen in Deutschland war groß. 26 Prozent Zustimmung, Platz eins in den Umfragen – kein Wunder, dass die Grünen sich zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine eigene Kandidatin vorstellen konnten, die in die „Waschmaschine", wie die Berliner das Kanzleramt augenzwinkernd nennen, einziehen könnte.
Dann aber kamen die Patzer. Annalena Baerbock musste zugeben, dass ihr Lebenslauf an einigen Stellen geschönt war. Quellenangaben in ihrem Buch fehlten. Das Wahlkampfteam der Grünen nahm sie einige Tage aus der Schusslinie, bis sich der erste Sturm medialer Entrüstung gelegt hatte – ein durchaus cleverer Schachzug. Baerbock entschuldigte sich danach, geholfen hat es jedoch nichts. Die Partei liegt in aktuellen Umfragen, wiederum Momentaufnahme, bei 16 Prozent und damit hinter einer Morgenluft schnuppernden SPD und einer taumelnden CDU auf Platz drei.
Dabei hatte alles so gut begonnen. Baerbock ist keine große Rednerin, verhaspelt sich manchmal, kann aber dennoch überzeugend und authentisch sein, Thema immer wieder: ihre Kinder, ihr ehemaliger Nebenjob als Bäckereiverkäuferin, Botschaft: „Ich bin eine von euch." Je länger der Wahlkampf dauert, desto sicherer wirkt sie. Weil die Partei als erste ihr Programm vorstellte, stellte sie sich damit am längsten in den Wind.
Standhaft im Gegenwind
Und dieser schlägt ihr teils heftiger ins Gesicht. Die industriefinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) schaltete Anfang Juni eine Kampagne in großen Medien wie der „Süddeutschen" oder der „Frankfurter Allgemeinen". Motiv: Annalena Baerbock als Moses mit den Gebotstafeln. Untertitel: „Wir brauchen keine neue Staatsreligion". Obwohl sich die INSM danach entschuldigte, war ihre Negativkampagne in der Welt, tausendfach geteilt und diskutiert.
Andere deutsche Medien, allen voran die „Bild", wurden nicht müde, sich an der Kandidatin abzuarbeiten – und sei es durch Ignorieren. „Bild-TV", das nicht rein zufällig mitten im Wahlkampf startete, lud gar die Kandidaten von SPD und CDU zum „Kanzlerduell". Von Baerbock keine Spur. Dass die Grünen-Kandidatin ein geplantes Interview mit „Bild am Sonntag" später absagte, mag in diesem Zusammenhang vielleicht kleinlich wirken. Noch kleinlicher: Die Zeitung, die nachtrat, indem sie eine fast leere Seite mit dem Titel „Das ist Ihre Seite, Frau Baerbock!" veröffentlichte. Auseinandersetzungen mit Inhalten? Fehlanzeige. Dabei gäbe es genügend am Grünen-Wahlprogramm zu kritisieren. Deutschland braucht einen sozialen und ökologischen Umbau, dies wird Baerbock nicht müde, immer wieder zu betonen – auch gegen den Widerstand einer „Fuck you, Greta"-Fraktion. Sozial soll dabei unter anderem der Umbau von Hartz-IV in eine Grundsicherung sein. In einem „ersten Schritt" soll der Regelsatz von Hartz IV um mindestens 50 Euro angehoben werden. Kosten: etwa vier Milliarden Euro. Das ist bestenfalls eine homöopathische Korrektur, legt man die Maßstäbe der Grünen Jugend an, die 200 Euro mehr gefordert hatte. Gleichzeitig sollen Sanktionen wegfallen, um den Beziehern mehr Sicherheit zu gewährleisten. Das bedingungslose Grundeinkommen unter anderem Etikett? Auf manchen Leser mag es so wirken. Einen Zeitplan, wann die soziokulturelle Teilhabe auf diese Weise gestärkt werden soll, sucht man in Erwartung schwieriger Koalitionsverhandlungen vergebens. Diese können sich erneut, wie 2017, hinziehen. Denn obwohl die Grünen an Zustimmung eingebüßt haben, bleiben sie als Machtoption für SPD und CDU ein gesetzter Faktor. Ohne Baerbock und Habeck wird es in dieser Legislaturperiode keine Regierungsbildung geben.
Auf Kriegsfuß mit den Linken
Ein Zweierbündnis SPD-Grüne ist rechnerisch derzeit nicht möglich – noch nicht, es fehlen etwa fünf Prozentpunkte, für die vor allem Olaf Scholz derzeit wahlkämpft. Die Kanzlerkandidatin könne sich gut eine Koalition mit der SPD vorstellen, sagte sie, sozialpolitisch gibt es Überschneidungen, doch mit den Linken steht die Partei seit dem Rettungseinsatz der Bundeswehr in Kabul eher auf Kriegsfuß. Von „Instabilität" ist laut „Handelsblatt" die Rede, die Linke habe sich ins „Abseits geschossen", weil sie dem Einsatz nicht zustimmte. Ein Dreierbündnis aus SPD, Grünen und Linken hätte ohnehin nur eine hauchdünne Mehrheit. Stabiler erscheint ein Bündnis mit den Liberalen. Lindner aber, der sich schon früh auf eine Koalition mit den Christdemokraten eingeschossen hatte, bekommt dadurch ein Argumentationsproblem. „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren." Dieser Satz aus dem Herbst des Jahres 2017 fällt Christian Lindner in diesem Jahr auf die Füße. Denn nicht zu regieren bedeutet, dass CDU/CSU ihre Option, eine Regierung zu bilden, 2021 begraben müssten, während die SPD sich noch den Weg nach ganz links offenhält. Nur mithilfe der FDP ist derzeit eine Koalition aus Konservativen und Grünen im Parlament mehrheitsfähig – ebenjene Jamaika-Konstellation, die 2017 scheiterte, nachdem Lindner nach langwierigen Verhandlungen mit Merkel und Habeck hinwarf. Entsprechend brauchen beide in diesem Jahr bessere Nerven, Grüne wie Liberale, als einzige ernsthafte Machtoption für Armin Laschet. Beide, Grüne wie FDP, sind also in der schwierigen Lage, sowohl miteinander als auch mit den beiden potenziellen Partnern SPD und CDU Schnittmengen suchen zu müssen. Klar ist auch: Andere Konstellationen sind möglich. Im Augenblick sogar, wiederum rein rechnerisch, eine dritte Große Koalition. Die Chancen darauf sind jedoch gering, das zeigen die Umfragen, die eine stärkere Beteiligung der Grünen als dritte demokratische Kraft im Land nahelegen.
Nach zwei Jahren Dauer-Corona-Krisen-Modus, der Afghanistan-Pleite und einer Jahrhundertflut scheinen Deutschlands Wahlbürger dennoch wenig enthusiastisch in eine neue politische Zukunft zu blicken, die von den Grünen mitgestaltet wird. Das liegt an den Patzern der Partei und der Kandidatin, aber auch den beiden anderen Kontrahenten, die kaum einen Aufbruch verkörpern. Zeit für Überraschungen. Sowohl soziale als auch ökologische Entscheidungen werden die Zukunft des Landes ganz maßgeblich beeinflussen. „Bereit, weil ihr es seid", lautet der Slogan der Grünen. „Bereit, wenn’s denn sein muss", antwortet Deutschland.