Die Historienserie „Bridgerton" hatte bei Netflix Anfang 2021 sämtliche Einschaltrekorde gebrochen und wird daher gerade mit einer zweiten Staffel fortgesetzt. Mit rund 7.500 Kostümteilen hat sie auch modisch reichlich Akzente setzen können, die unter dem Begriff Regencycore trendig geworden sind.
Eine schwarze britische Königin im Jahr 1813. Ihre adlige Entourage – ganz im Sinne der aktuell angesagten Diversität – besteht aus einer ganzen Reihe von „People of Color". Die Macher der Netflix-Serie, die US-Erfolgsproduzentin Shonda Rhimes, die schon für Hits wie „Grey’s Anatomy" verantwortlich war, sowie ihr Adlatus und Showrunner Chris Van Dusen hatten dem Publikum schon einiges an historischen Ungereimtheiten zugemutet. Dabei hätte auch die Person des realen Prince of Wales, der in der kurzen britischen Epoche des Regency zwischen 1811 und 1820 schon vor seiner offiziellen Thronbesteigung als Georg IV. die Regierungsgeschäfte geführt hatte, reichlich Stoff für eine spannende Dramenhandlung geboten. Denn Georg August Friedrich von Hannover ist der Nachwelt aufgrund seines ausschweifend-extravaganten Lebenswandels mit zahllosen Affären oder einer unglaublichen Verschwendungs- und bis an den Ruin reichenden Spielsucht in Erinnerung geblieben.
Auch das zentrale Thema der ersten, auf acht Episoden mit jeweils rund einer Stunde Spiellänge verteilten Staffel des Historiendramas „Bridgerton", das nach seinem Start am 25. Dezember 2020 weltweit innerhalb von 28 Tagen von 82 Millionen Haushalten gestreamt worden war und damit bei Netflix alle Einschaltrekorde gebrochen hatte, kann geschichtlicher Überprüfung nicht standhalten. Denn die mit reichlich Romantik untermalte, mit einer gehörigen Prise Sex gewürzte und mit den hintergründigen Kommentaren der Klatsch-Kolumnistin Lady Whistledown (Julie Andrews) versehene Suche der adligen Daphne Bridgerton (Phoebe Dynevor) nach einem für sie geeigneten Ehemann, der sich schließlich als der schwarze Simon Basset, Duke of Hastings (Regé-Jean Page) entpuppen sollte, hätte in der britischen Nobelgesellschaft des Regency so nicht stattfinden können. Denn: Eine Ballsaison als Verkuppelungshilfe hat es auf der Insel nie gegeben. Eheschließungen wurden damals von den männlichen Familienoberhäuptern arrangiert, eine Liebesheirat wie in der Serie war die absolute Ausnahme.
Produzenten legen keinen großen Wert auf historische Genauigkeit
Aber auf historische Akkuratesse legten offenbar weder die Produzenten noch die Zuschauer größeren Wert. Das wird sich auch bei den kommenden Staffeln kaum ändern. Bei anhaltend hohen Streamingquoten ist mit acht Staffeln zu rechnen, schließlich gibt es acht Romane von Julia Quinn als Drehbuchvorlagen. Zudem gehören zur Familie Bridgerton acht Nachkommen, die anfangs allesamt unverheiratet waren. In der zweiten Staffel, deren Dreh schon längst begonnen hat und die womöglich schon Ende 2021, wahrscheinlicher aber wohl erst im Frühjahr 2022 ausgestrahlt werden wird (auch sind schon Verträge über die dritte und vierte Staffel in trockenen Tüchern )wird sich der älteste Sohn Viscount Anthony, gespielt von Jonathan Bailey, in der Ballsaison auf Brautsuche begeben und dabei auf Edwina Sharma (Charithra Chandran) und deren Schwester Kate Sharma („Sex Education"-Star Simone Ashley) treffen. Der Hauptfigur Daphne aus der ersten Staffel verbleibt nur noch eine winzige Nebenrolle. Die Zuschauer dürfen sich aber sicherlich auch künftig bei „Bridgerton" auf die gekonnte Mischung aus den Büchern von Jane Austen – der Regency-Schriftstellerin schlechthin mit den Hauptwerken „Stolz und Urteil" und „Emma" – sowie den Erfolgsserien „Gossip Girl" und „Downtown Abbey" freuen. Zusätzlich will die „Süddeutsche Zeitung" noch eine „bonbonfarbige Poppigkeit aus Sofia Coppolas ‚Marie Antoinette‘" ausgemacht haben.
Auch wenn Netflix bislang keine Angaben zu den Produktionskosten gemacht hat, dürfte „Bridgerton" doch reichlich Geld gekostet haben. Wozu auch die für die Produzentin Shonda Rhimes und ihre Firma Shondaland unabdingbaren Accessoires einen ganz maßgeblichen Beitrag geleistet haben dürften: Nämlich der Pomp, die Pracht und die Vielfalt der eigens für die Serie von einem 258-köpfigen Team unter Leitung der Kostümbildnerin Ellen Mirojnick zusammengestellten Garderoben. Mehr als 7.500 Einzelstücke wurden allein für die erste Staffel entworfen, darunter waren 5.000 komplette Kostüme, von denen Daphne Bridgerton alleine 104 präsentiert hatte. Auch bei der Mode folgten Mirojnick und Co. nicht streng historischen Vorbildern der Regency-Epoche. „Wir haben uns verschiedene Silhouetten und Formen angeschaut mit der Idee, dass sie eine Inspiration sein sollten, keine exakte historische Nachbildung", so Mirojnick.
John Galliano war ein glühender Verehrer der Empire-Mode
Da das Regency auch modisch auf der britischen Insel so etwas wie ein Scharnier zwischen dem Georgianischen und dem Viktorianischen Zeitalter war, wurden stilistisch neben den Designs des frühen 19. Jahrhunderts auch Einflüsse aus der langen, reichlich modische Trends setzenden Epoche der Queen Victoria mit verarbeitet. Aber es wird auch freizügig: Es wird beispielsweise auf Stoffe oder Farben von Christian Dior aus den 1950er-Jahren zugegriffen. Dennoch gelingt es den Kostümbildnern durch ihre Modeauswahl, den Betrachter ins Zeitalter der Jane Austen und ins Jahrzehnt des Regency zu versetzen. Damals stand das Schönheitsideal der griechischen und römischen Antike hoch im Kurs. Natürlich nicht nur auf der britischen Insel, sondern beispielsweise auch in Frankreich mit einem dem Regency sehr ähnlichen Directoire- und Empire-Kleider-Stil.
In der Mode wurden damals pompös ausgestellte Kleider und die durch Einschnürungen erzielte Sanduhr-Silhouette infrage gestellt und durch einen Look à la grecque ersetzt, wofür das durch seinen Unterbrustschnitt sowie eine hohe Taille definierte und vor allem durch Napoleons Ehefrau Joséphine populär gemachte Empire-Kleid aus hauchdünnen Stoffen – oft mit ausgeprägtem Dekolleté oder Laternenärmeln – das Paradebeispiel darstellte. Besonders in der klassischen Farbe Weiß gehalten, was sich im Alltag allerdings kaum tragen ließ und daher festlichen Anlässen vorbehalten blieb, weshalb zu zarten Pastellfarben Zuflucht genommen wurde.
Da der Schnitt der Kleider – aus Satin bis Tüll – unter denen die Korsetts etwas leichter und weniger einengend gestaltet waren, trotz teils aufwendiger Stickereien ganz schlicht gehalten war, sorgten die Frauen mit schmückenden Accessoires und ausgefallenen Frisuren für optische Akzente. Allerlei Raffiniertes für Kopf, Hals und Ohren war daher auch bei den Damen um Daphne Bridgerton zu bestaunen. Es funkelte und blitzte geradezu angesichts einer Flut von Diademen, Tiaras, Ohrringen, Halsketten oder Broschen. Die Haare waren in romantische Wellen gelegt, zu engen, hochgesteckten Locken gedreht oder zu adretten, reichlich mit Schmuck, Federn, Schleifen oder Blüten verzierten Updos geformt. Die Taille wurde durch dekorative Bänder betont, die Füße der „Bridgerton"-Damen waren von mädchenhaften Mary Janes umhüllt, lange Handschuhe reichten über die Armbeuge hinaus, über den Empire-Kleidern wurden Capes getragen. Einen kleinen stilistischen Ausreißer erlaubte sich das Kostüm-Team bei der mit den Bridgertons konkurrierenden Familie der Featheringtons, deren heiratswillige Töchter in farbenfrohe Millefeuille-Kleider gesteckt wurden, wobei die Bonbontöne Rosa, Lila, Gelb oder Orange schon ziemlich grell wirkten.
Gänzlich neu waren die Kreationen der „Bridgerton"-Serie im Regency-Stil mit den dominanten Empire-Kleidern natürlich keineswegs. Labels wie Erdem, Cecilie Bahnsen, Simone Rocha, Zimmermann oder Rodarte hatten in den letzten Jahren schon Ähnliches in ihrem Sortiment. In der Modegeschichte gilt vor allem John Galliano als glühender Verehrer der Empire-Mode. Laut der deutschen „Vogue" hätte man problemlos Daphne Bridgerton von Kopf bis Fuß mit seiner Haute Couture-Kollektion für Dior aus dem Jahr 2005 einkleiden können. Drei Jahre später hatte sich Alexander McQueen vom Regency-Look inspirieren lassen. Und 2016 war die Empire-Silhouette auf einer ganzen Reihe von Pariser Haute Couture-Schauen zu bewundern gewesen.
Doch nur der „Bridgerton"-Serie sollte es gelingen, weltweit einen wahren Hype um die Regency-Mode auszulösen, was in Windeseile zur Neubildung des Stilbegriffs „Regencycore" führen sollte. Die Anfragen beim Fashion-Suchportal Lyst explodierten in den ersten Wochen dieses Jahres geradezu. Bei Empire-Kleidern lag das Plus bei 93 Prozent (bei der Onlineshopping-Plattform Stylight waren es 150 Prozent), bei Korsetts waren es sogar 123 Prozent, bei Perlen- und Federkopfschmuck 49 Prozent, bei langen Handschuhen immerhin noch 23 Prozent. Auch Capes, Babydolls, Haarreifen (als günstige Alternative zu den kostbaren Tiaras) und Mary Janes waren plötzlich sehr angesagt. „Bridgerton Blue" wurde dank Daphne zu einer angesagten Farbe. Selbst Anleitungen für die „Bridgerton"-Frisurenmode oder gar das Regencycore-Make-upLook, bei dem Natürlichkeit in hell-pastelligen Tönen Trumpf ist, kursierten schnell im Web. Auf TikTok entstand selbst ein „Bridgerton"-Musical. Natürlich profitierten auch Spezialisten-Labels mit Erdem an der Spitze von dem unerwarteten Run. Erdems Empire-Kleider mit Blumenmustern und Puffärmeln aus der Sommerkollektion 2021 waren so etwas wie die perfekte moderne Umsetzung des Regency-Stils. Auch im Sommer-Sortiment von Rodarte oder Zimmermann konnten weibliche Serien-Fans jede Menge Anregungen für den Regency-Look finden, bei Simone Rocha und Cecilie Bahnsen waren es vor allem Babydoll-Kleider. Und für den kommenden Winter, womöglich noch rechtzeitig für den Start der zweiten Netflix-Staffel, haben sich Marken wie Dior, Simone Rocha und auch wieder Zimmermann für einen neuen Fanansturm auf Regency-Kleider bestens gerüstet.