Wer seine Angelegenheiten nicht mehr alleine besorgen konnte und eine Vollbetreuung hatte, war bisher vom Wahlrecht ausgeschlossen. 2019 strich der Bundestag dieses Verbot. Jetzt dürfen rund 85.000 Menschen mit Behinderung erstmals ihre Stimme abgeben.
Der Artikel 38 des Grundgesetzes besagt, wie gewählt wird und wer wählen darf. Das Bundeswahlgesetz legt fest, wer davon ausgeschlossen ist. Bis 2018 waren es auch Menschen mit Behinderung, die voll betreut wurden. Das ist eindeutig ein Verstoß gegen Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention, der Menschen mit Behinderungen eine Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben garantiert, was auch die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden. Das bedeutet auch, dass sie sich auf Wunsch bei der Stimmabgabe durch eine Person ihrer Wahl unterstützen lassen können. Mit der Änderung des Bundeswahlgesetzes ist das nun auch in Deutschland verbindliches Recht.
Allerdings muss das auch bei den Betroffenen ankommen. Viele Familienmitglieder haben bisher im Sinne ihrer Angehörigen gewählt, indem sie sich für Parteien entschieden, die sich auch für Behinderte und ihre Anliegen einsetzen. Nun können rund 85.000 von ihnen selbst entscheiden. Aber wissen sie das auch? „Viele Menschen mit kognitiven Einschränkungen wissen wenig über ihre Grundrechte. Das ist schade", stellt Rita Hübenthal-Montero fest, die seit mehr als 20 Jahren mit geistig behinderten Menschen arbeitet. Sie bietet Workshops zum Thema an, in Behinderteneinrichtungen und auch in der Berliner Landeszentrale für politische Bildung. „Mir ist es sehr wichtig, die Menschen mit den Wahlzetteln vertraut zu machen, da wir in Berlin dieses Jahr mit dem Volksentscheid sechs Kreuze machen können. Deshalb wird eine Wahl mit echten Stimmzetteln simuliert. Um die Menschen in der Wahlkabine nicht zu überfordern, empfehlen wir deshalb die Briefwahl. So hat jeder die nötige Zeit und Ruhe zum Wählen."
Gemäß Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention muss auch sichergestellt werden, dass die Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind. „Das ist wirklich ein schwieriges Thema, weil es viel Abstraktionsvermögen verlangt", betont Rita Hübenthal-Montero. Das kann auch Andreas Krüger bestätigen. Er arbeitet als Betreuer in der Außenwohngruppe Sankt Martin der Tiele-Winckler-Haus GmbH, in dem Menschen mit geistiger Behinderung leben und betreut werden. Auch sie bekommen wie alle anderen ihre Wahlunterlagen zugeschickt. „Wir haben in den vergangenen Jahren gemeinsam mit den Bewohnern das Thema Wahlen besprochen", sagt er, „aber es ist sehr schwierig, ihnen diesen komplexen Sachverhalt zu erklären. Wir haben dazu den Wahl-O-Mat genutzt. Aber wenn sie die Fragen nicht richtig verstehen, können sie auch nicht die zutreffenden Antworten bekommen. Und wir müssen auch aufpassen, dass wir sie nicht beeinflussen, das ist ein sehr schmaler Grat. Deshalb machen wir es in diesem Jahr nicht mehr, sondern überlassen es den gesetzlich Betreuenden und Familienangehörigen, wenn unsere Bewohner es möchten." Während gerade die Wahlveranstaltungen stattfinden, haben leider die Parteien diese Wählergruppe kaum im Blick, findet Andreas Krüger. „Bei der letzten Wahl waren es zwei Parteien, die es versucht haben. Aber es hat nicht funktioniert, es war nicht gut gemacht."
Parteien reagieren auf die neue Wählergruppe
Bleiben also die Wahlprogramme. „Selbst in Leichter Sprache sind die für viele Menschen schwer zu verstehen, auch wenn sie lesen können. Wer wenig oder nicht lesen kann, braucht bei der Beantwortung dieser Fragen Hilfe und Assistenz", erklärt Rita Hübenthal-Montero. „Ich versuche in den Seminaren, bei wichtigen Lebensbereichen wie zum Beispiel Verkehr die unterschiedlichen Standpunkte der Berliner Parteien herauszuarbeiten. Da habe ich gemerkt, wie schwer das ist, da gerade im Wahlkampf fast alle Parteien mit populären, aber unkonkreten Aussagen für sich werben. Für meine Zielgruppe ist es besonders schwer, hier zu differenzieren und sich die Partei herauszusuchen, die ihren Bedürfnissen am ehesten entspricht. Erstaunlicherweise haben aber viele Menschen auch mit starken kognitiven Einschränkungen oft eine Lieblingspartei, die in vielen Punkten mit den Bedürfnissen übereinstimmt." Ihr Wunsch an die Politik: „Konkrete und verständliche Statements der Parteien, die sich an der Lebensrealität der behinderten Menschen orientieren. Sie sollten wie alle anderen Bürger als wichtige Wählergruppe ernst genommen werden, denn eigentlich unterscheiden sie sich in ihren Bedürfnissen und Entscheidungen kaum von der Durchschnittsbevölkerung." Viele der Menschen bräuchten lediglich Motivation und Assistenz.
Und wie sehen das die Berliner Parteien? Die SPD bietet ihr Wahlprogramm neben einer Hörfassung auch in Leichter Sprache zum Download als PDF-Datei an. Die Linke stellt auf ihrer Webseite unter www.die-linke.de/wahlen/wahlprogramm-2021 eine Kurzfassung ihres Wahlprogramms in Leichter Sprache und großer Schrift vor. Bündnis 90/Die Grünen Berlin haben einen Leitfaden für einen barrierefreien Wahlkampf, und deshalb findet man ihr Wahlprogramm in Leichter Sprache auf der Startseite oben. Auch bei der FDP ist das spezielle Angebot gleich auf der Startseite zu finden.
Die Berliner CDU plant, ihre derzeit präsentierten zehn Hauptgründe, warum man sie wählen sollte, in Leichter Sprache zu veröffentlichen. Die AfD sieht keinen Handlungsbedarf, sie ist allgemein bemüht, ihr Programm leicht verständlich abzufassen.
Wer sich nun fragt, warum überhaupt und wie gewählt wird, kann das in der Broschüre „Das politische Berlin … einfach erklärt" nachlesen, die Rita Hübenthal-Montero mit Annette Bäßler verfasst hat. Sie ist als PDF-Datei auf ihrer Webseite www.berlin-in-leichter-sprache.de verfügbar und auch über die Berliner Landeszentrale für politische Bildung erhältlich, mit der sie zusammenarbeitet.
Noch anschaulicher erklärt sie Politik auf ihren Stadtführungen. Die nächste Führung in Leichter Sprache zum Thema „Das politische Berlin" findet am 25. September statt.