Der Wahlkampf hat sich eine neue Arena gesucht. Soziale Netzwerke – Facebook, Twitter, Instagram, Tictoc und Co – reagieren schneller, emotionaler und kontroverser als andere Medien. Welche Macht haben die Digitalen, wieviel Einfluss haben sie?
Endlich ist er da, mein Wahlschein zur Wahl des 20. Deutschen Bundestages", postet eine im Ausland lebende Deutsche auf Instagram. Die Userin hat gerade ihre Briefwahlunterlagen erhalten. „Auf das Ergebnis bin ich ja mal echt gespannt!" Kurze Zeit später kommentiert eine weitere Nutzerin auf der Social-Media-Plattform den Post: „Ich kann dir sehr empfehlen, die Videos von @rezo auf Youtube zu schauen, bevor du ein Kreuz machst." Der YouTuber als Wahlberater für eine, vielleicht noch nicht ganz entschlossene Wählerin? Hat der 29-jährige Social Media-Aktivist mit dem blauen Hahnenkamm tatsächlich mehr Einfluss auf die Wähler als ein herkömmliches Wahlplakat oder eine TV-Talkshow bei Maischberger, Lanz und Co?
Bereits bei der Europawahl im Jahr 2019 mischte Rezo, der unter anderem studierter Informatiker ist, digital heftig mit. Damals hatte der Youtuber unter dem Titel „Die Zerstörung der CDU" die Politik der Union fast eine Stunde lang scharf kritisiert. Und auch die SPD hat ihr Fett wegbekommen: „Wählt nicht die CDU/CSU, wählt nicht die SPD", so sein Appell damals. Das Video wurde mehr als Million Mal angeklickt und bekam zahllose Likes. Und tatsächlich: Als die Wahlergebnisse bekannt wurden, gab es lange Gesichter bei CDU und SPD. Gerade bei jungen Leuten hatten die großen Volksparteien mächtig Stimmen eingebüßt. Im Gegenzug kamen die Grünen mit einem Plus von fast zehn Prozent auf satte 20,5 Prozent und wurden bei den jungen Wählern mit 33 Prozent stärkste Kraft. Der „Spiegel" sprach sogar von einem „Rezo-Effekt".
Auch jetzt, kurz vor der Bundestagswahl, attackiert Rezo die Union mit einer zweiteiligen Neuauflage. Der erste Teil von „Zerstörung 2" hatte innerhalb der ersten Woche rund drei Millionen Views. Im zweiten Teil der Neuauflage steht die Klimakrise im Mittelpunkt. Der Vlogger (aus Video und Blog) macht CDU und SPD für viele politischen Versäumnisse in der Klimapolitik verantwortlich. Dieses Video erreichte binnen 24 Stunden mehr als zwei Millionen Views.
Nicht nur Vlogger und Aktivistinnen wirbeln das Netz auf. Auch die Parteien mischen mit. Die digitale Nase vorn in Sachen Politkommunikation hatte von Anfang an die AfD. Die Partei um Alice Weidel und Timo Chrupalla nutzt die sozialen Medien vor allem zur Emotionalisierung und Polarisierung. Wofür die Algorithmen der Netzbetreiber den perfekten Nährboden bereitet haben. Der Medienwissenschaftler Thorsten Klein hat kürzlich in einem Gastbeitrag für FORUM (Ausgabe 36) beschrieben, wie Algorithmen vorgehen. Sie sind es, die die Nachrichten auswählen, die dem Nutzer angezeigt werden. Sie wirken damit direkt auf Meinungsvielfalt und Meinungsbildung ein. Und „sie befeuern zusätzlich die Entstehung von Filterblasen", schreibt Thorsten Klein. „Dies gilt für alle Beteiligten im System. Während an der AfD interessierte Menschen nur noch Informationen aus AfD nahen Kreisen zugespielt bekommen, driften Führungskräfte in eigene Blasen ab und suchen Bestätigung." Auf diese Art und Weise können Social-Media-Plattformen innerhalb der Blase die Illusion erzeugen, dass alle gleich denken würden, was die eigene Meinung verstärkt. Diese sogenannte Bestätigungsverzerrung, auf Englisch „Confirmation Bias" genannt, macht es für den User aber schwieriger, alternative Sichtweisen wahrzunehmen. In der Politik können diese Algorithmen dazu beitragen, dass die Nutzer voreingenommener und weniger tolerant gegenüber Andersdenkenden sind.
Die Macht der Algorithmen zeigt sich zum Beispiel an Empfehlungsalgorithmen, mit denen große Plattformen wie Facebook und Youtube arbeiten. Man schaut sich etwa ein Videobeitrag zu einem bestimmten Thema an, und auf einer Bildleiste rechts werden gleich neue Videos vorgeschlagen. Forscher wie der brasilianische Informatiker Manoel Ribeiro und sein Team oder die amerikanische Soziologin Zeynep Tufekci sind den Empfehlungspfaden nachgegangen und konnten nachzeichnen, wie sich User radikalisieren können. So kann man sich vorstellen, dass sich ein Weg von patriotischen Wertvorstellungen hin zu einer rechtsextremen Einstellung bahnt. Tufekci etwa sah sich Reden von Donald Trump an, bis Youtube ihr vorschlug, auch Videos anzuschauen, die Holocaustleugner produziert hatten. Sie gelangte zu dem Befund, dass Youtube „eines der mächtigsten Radikalisierungsinstrumente des 21. Jahrhunderts" sein kann.
Fake News sind „Brandbeschleuniger"
Die Kommunikation im Netz hat ein anderes Tempo als herkömmliche Medien. Sie ist beschleunigter und direkter geworden. Durch ihre pausenlose Verfügbarkeit können Nachrichten, aber auch Halb-Wahrheiten und Fake News atemlos im Sekundentakt verbreitet werden. An der Distribution falscher, verzerrter oder verkürzter Nachrichten beteiligen sich nicht nur normale User, sondern mitunter auch Politiker. Das betrifft bei Weitem nicht nur Abgeordnete der AfD. Eines der jüngeren Beispiele ist die Reaktion von Lars Klingbeil (SPD) auf einen Redebeitrag von Armin Laschet (CDU). Klingbeil postet auf Twitter einen Videoschnipsel dieser Rede. „In all den Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte standen Sozialdemokraten immer auf der falschen Seite", soll Laschet da im Video gesagt haben. Schaut man sich jedoch das ganze Video an, hat Laschet das Ganze aber so formuliert: „In all den Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte standen Sozialdemokraten immer auf der falschen Seite in der Wirtschafts- und Finanzpolitik".
Schnell hagelte es Gegenkritik auf dem Nachrichtendienst. Die einen warfen dem SPD-Mann gleich Fake News vor, die anderen zumindest eine Verzerrung. „Natürlich ist das Laschet-Zitat übel verkürzt –
und damit von den SPD-Parteisoldaten brutal skandalisiert worden. Aber das ist WahlKAMPF", resümiert Ulf Poschard, Chefredakteur der „Welt" auf Twitter. Auf digitale Desinformation im virtuellen Wahlkampf weist auch Julian Jarusch, Projektleiter beim gemeinnützigen Thinktank der Stiftung Neue Verantwortung, hin: Beispielsweise verbreiteten sich online falsche, beziehungsweise aus dem Kontext gerissene Zitate, die angeblich von Kandidierenden für die Kanzlerschaft stammten. „Auch gefälschte Wahlkampfseiten, die sich selbst als Satire bezeichneten, wurden teilweise als Desinformation eingestuft", schreibt er.
Falsche Nachrichten verbreiten sich schneller als wahre. Forscher vom amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) haben das in einer Studie über Twitter gezeigt. So brauchte eine wahre Nachricht im Schnitt sechsmal so lange wie eine falsche, um 1.500 Personen zu erreichen. Fake News, so schreibt es Thorsten Klein, „sind Brandbeschleuniger für Krisen und schaffen den Weg aus der virtuellen in die reale Welt. Das wirkt sich auf die Geschwindigkeit aus." Das rasante Tempo bedingt es auch, dass sich Hashtags wie #Grueneverhindern, aber auch #Laschetverhindern oder #Scholzverhindern schnell verbreiten. Das geschieht vor allem dann, wenn sich bestimmte Parteianhänger beziehungsweise Gegner verabreden, zum Beispiel über WhatsApp-, Signal- oder Telegram-Gruppen. Auch automatisch verbreitete Beiträge, sogenannte Social Bots, können derartige Shitstorms unterstützen. Verhindern lassen sich solche Aktionen nur schwer.
Fernab von negativen Kampagnen versucht die Partei Die Linke die digitale Wahlwerbung spielerisch anzugehen. Sie probiert als bisher einzige Partei Gamification als eine ihrer Marketingstrategien. Mit ihrer App „Blobby’s Rising" können politisch Interessierte durch Teilnahme an einem interaktiven Spiel die Welt verbessern. Nebenbei wird Wahlwerbung eingestreut. Im Spiel selbst müssen die Teilnehmer Waffenexporten, Mieterhöhung, Privatisierung und Briefkastenfirmen „ausweichen". Und durch ein einfaches „One-Touch-System" die „Dinge einsammeln, die das Leben besser machen": mehr Lohngerechtigkeit, mehr Pflegepersonal, einen Mietendeckel, ein besserer ÖPNV, mehr Fahrradwege und etwas, was in diesen Zeiten wahrscheinlich parteiübergreifend bei allen Wählern gut ankäme: Frieden.