Sie ist eine Pionierin der „Alpinen Heilkunde". Die Ernährungswissenschaftlerin Karin Buchart hat als Erste eine Doktorarbeit über traditionelle Pflanzenheilmittel in den Alpen geschrieben. Am wichtigsten ist ihr, praktisch anwendbares Wissen unter die Leute zu bringen.
Strumpfsockig und in einem schlichten taubenfarbenen Leinenkleid öffnet sie die Tür. Karin Buchart liebt es natürlich. Das strahlt auch ihr Haus in Unken aus, einem 2.000-Seelen-Dorf westlich von Salzburg gelegen. Holz und Natursteine dominieren das Bild in dem versteckt in zweiter Reihe gelegenen Einfamilienhaus mit Bergblick. Hier im Saalachtal ist sie auch aufgewachsen.
Die Österreicherin hat zur Erfrischung eine Karaffe köstlichen Wassers mit Limette, Zitronenverbene, Rosmarin und Basilikumminze vorbereitet. „Bei Minzen mag ich lieber die etwas sanfteren, die zitroniger und mentholischer schmecken", erklärt die 57-Jährige. „Wichtig ist, dass man unbedingt die Schale der Zitrusfrucht mitverwendet wegen der Bitter- und Gerbstoffe. Die regen den Stoffwechsel an."
Womit wir schon beim Thema sind. Karin Buchart ist Kräuterexpertin. Nicht irgendeine, sondern eine der bekanntesten des Landes. Detailliert setzt sie sich mit der Heilwirkung von Pflanzen auseinander. Zu diesem Thema hat sie zahlreiche Bücher veröffentlicht. Dazu hält sie Vorträge, gibt Seminare und Workshops und schreibt Kolumnen.
35 Bergbewohner wurden von ihr befragt
Doch wie kam Karin Buchart zu ihrem Lebensthema? „Als Ernährungswissenschaftlerin arbeitete ich früher in einer Rehaklinik und leitete die Diät- und Lehrküche. Die motivierten Patienten fragten oft, was sie noch selbst für ihre Gesundheit tun könnten." Sie wollten selbstbestimmt etwas für ihre Gesundheit tun. „Da kam mir die Idee, seit Jahrhunderten überlieferte Heilmittel zu untersuchen und ihre Wirksamkeit wissenschaftlich abzuklären." Was dann folgte, war der Anfang einer Erfolgsgeschichte. Karin Buchart befragte 35 ältere Bergbewohner, vor allem Hausfrauen und Bäuerinnen im Pinzgau im Salzburger Land, zwischen 70 und 90 Jahren alt. Erfasst wurden detailliert praktische Erfahrungen mit traditionellen Heilmitteln.
Die sonst so gering geschätzten Kenntnisse von Frauen, die ihr Leben lang in der Küche gearbeitet haben, erwiesen sich als äußerst wertvoll. „Das ist ein Wissen, das von unserer Gesellschaft gar nicht wahrgenommen wird", stellt Karin Buchart fest. Am Ende hatte die Wissenschaftlerin aus mehr als 100 erwähnten Heilpflanzen 55 herausgefiltert. Deren Wirkung wurde sowohl von den alten Pinzgauern als auch in der medizinischen Literatur mit gleicher Wirkung beschrieben und ist heute von der Pharmazie anerkannt.
Aus diesem Projekt der Interviews, das wertvolles Wissen festhielt, entstand ihre Doktorarbeit über Alpine Heilkunde „Biogene Arzneimittel im Salzburger Pinzgau". Große Wertschätzung erfuhr ihre Forschungsarbeit im Jahr 2010 durch die Unesco: Das dokumentierte Heilwissen der Pinzgauerinnen wurde in die Liste des immateriellen Kulturerbes von Österreich aufgenommen.
Seitdem ist das Bewusstsein für altes Heilwissen gewachsen. Andere Regionen zogen nach. Derzeit betreut Karin Buchart ein ähnliches Forschungsprojekt in Niederösterreich. Gleichzeitig unterrichtet sie an der Universität Salzburg. Allerdings erwähnt sie ihren Doktortitel nicht immer und überall. Denn die österreichische Provinz ist nicht Wien, wo Titel allgemein gern genannt werden: „Akademische Abschlüsse werden auf dem Land generell geringer geschätzt."
Dazu ist die Kräuter-Fachfrau keine reine Theoretikerin, die nur am Schreibtisch sitzt. 1984 trat sie bei den Olympischen Spielen in Los Angeles für Österreich im Sportschießen an. Kein Wunder, mit Schütze als Sternzeichen, könnte man meinen. Hatte sie beim Sport die Konzentration auf das Ergebnis gelernt? Denn von vornherein stand für sie fest: „Ich wollte meine wissenschaftliche Arbeit nicht für die Schublade machen." Schon früh hatte sie das Interesse der Menschen an heimischen Kräutern wahrgenommen, nicht zuletzt dank des wachsenden Tourismus.
In den 1970er-Jahren kamen viele Deutsche ins Saalachtal zur Sommerfrische – aus Berlin, Hamburg und dem Ruhrgebiet. Karin Bucharts Mutter hatte damals Zimmer vermietet. „Die Gäste schätzten unseren Brennnesseltee aus frischen Pflanzen und seine positive Wirkung der Entwässerung. Die alpinen Kräuter taten ihnen gut." Inzwischen ist es im Saalachtal ruhiger. Es gibt kein Remmidemmi wie andernorts, keine Autobahn, dafür aber viel Natur. Es herrschen ideale Bedingungen für biologische Landwirtschaft und Kräutersammeln.
In ihrer Pinzgauer Heimat gründete Karin Buchart mit anderen 2007 den Verein TEH – Traditionelle Europäische Heilkunde. Viele kennen zwar TCM, die Traditionelle Chinesische Medizin, doch ist ihnen meist nicht bewusst, dass es auch in Europa ein überliefertes Heilwissen gibt. Ziel des TEH-Vereins ist es, das traditionelle regionale Heilwissen zeitgemäß weiterzugeben. „Hierfür habe ich Lehrgänge entwickelt, in denen man das Pflanzenwissen, die Anwendungen und die Handwerke dazu erlernen kann." Dazu kann man im TEH-Geschäft am Ortseingang von Unken Tees, Einzelkräuter, Sirupe und Gewürze erwerben. Die Pflanzen hierfür haben Frauen aus der Gegend gesammelt. Für sie ist es ein willkommener Nebenerwerb.
Ein Jahrzehnt lang hatte Karin Buchart die Geschäfte des TEH-Betriebes mit zwölf Angestellten geführt. Für Pflanzenexperimente blieb kaum mehr Zeit. Da nahm sie Abschied. 2018 war das Kräuterhexen-Dasein für sie vorbei. „Ich bin nicht der Typ, der jahrzehntelang dasselbe macht. Für mich darf kein Alltagstrott entstehen. Das ist für mich zu langweilig."
Seitdem arbeitet die Ernährungswissenschaftlerin eigenständig. Bei allen Themen lautet ihre Maxime: Wissen muss anwendbar sein. Die Alltagstauglichkeit steht bei ihr heute im Vordergrund. „Seltene Heilpflanzen zu bekommen, ist für manche in der Stadt zu kompliziert. Deshalb empfehle ich nur noch Kräuter und Gewürze mit einer wissenschaftlich nachgewiesenen Wirkung, die auch unkompliziert verfügbar sind."
Die Expertin schildert genau, wie man Pflanzen haltbar und ihre Wirkstoffe für den Körper besser bioverfügbar macht. „Denn es ist ein Unterschied, ob man Salbei kaut oder einen Tee oder Schnaps davon herstellt." In ihrem eigenen Garten wachsen natürlich auch Kräuter. Vorbei geht es an Salbeistöcken, Lavendelbüschen und Königskerzen. Für Gartenarbeit hat die Buchautorin allerdings nicht viel Zeit. So ist ihr Garten eher naturnah. Allzu akkurate Gärten schätzt sie ohnehin nicht.
An der Uni Salzburg hält sie Vorlesungen
Trotz ihres Erfolges und der Popularität von alternativen Heilmethoden wird laut Karin Buchart in unserem Gesundheitssystem die Kräuterheilkunde immer noch eher volksmedizinisch, also sehr kritisch gesehen. „Ich habe lange überlegt, wie man dieses Wissen in das Gesundheitssystem bekommt. Corona hat dem Vorhaben einen Schub verliehen. Allein der Gedanke, selbst etwas für seine Gesundheit tun zu können, wirkt ja schon gesundheitsfördernd. Man ist dann nicht so ausgeliefert. Das wird meiner Meinung nach von der Schulmedizin vernachlässigt."
Dabei stützt sie sich auf die Forschungen des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky, der zeigte, wie wichtig für die eigene Gesundheit auch das Gefühl der Verstehbarkeit und der Handhabbarkeit ist. „Natürlich kann eine Pharmafirma aus Kapuzinerkresse auch Arzneimittel herstellen und das teuer verkaufen", sagt die Autorin, „aber ich finde, es ist ein Menschenrecht, dass man erfährt, wie einfach es ist, Medizin selbst zu ma-chen, wenn man das möchte."
An der Universität Salzburg hält Karin Buchart als Dozentin Vorlesungen. Die Uni bietet auch den seltenen Masterlehrgang in „Gastrosophie" an. In diesem Fach wird Ernährung kulturwissenschaftlich erforscht. Dabei werden Lebensmittel interdisziplinär behandelt. Mit auf dem Lehrplan steht auch die „Alpine Küche", die in der Gastro-Szene –
also in der Praxis – längst ein Trend ist.
„Erst einmal wollen wir die alpine Ernährung genauer definieren", erläutert die Ernährungswissenschaftlerin. „Die mediterrane Küche ist bekannt und ihre Nährstoffe sind analysiert, nicht aber die alpine Ernährung." Was macht die „Alpine cuisine" im Kern aus? Ernährungswissenschaftler und Köche gleichermaßen wollen der heimischen Alpenküche einen würdigen Stellenwert verleihen. Die „Nordic cuisine" in Skandinavien hat es ihnen vorgemacht.
Inzwischen arbeiten viele Kräuterbegeisterte im Salzburger Land mit Karin Buchart zusammen, wie etwa der österreichische Sternekoch Vitus Winkler. Der 38-Jährige führt im Pongau im Salzburger Land ein Gourmetrestaurant mit Hotel. Auf Wanderungen durch die Natur sammelt er Wildkräuter für die Küche, Gäste können ihn dabei begleiten.
Vitus Winkler beschäftigt sich akribisch mit den aromatischen Eigenschaften der Wildpflanzen. Die frischen Blättchen und Blüten dienen dann als Zutaten für kreative wie geschmacksintensive Menüs. So landen Labkraut, Spitzwegerich und Quendel, der wilde Feldthymian, auf den Tellern einer alpenländischen Küche, die exquisit neu interpretiert wird.
Träumt von einem begehbaren Lern-Ort
Karin Buchart gefällt das. „Kräuter sind für die Gesundheit des Darms wichtig und die ist wiederum für die psychische Gesundheit mitverantwortlich." Ihr Anliegen ist es, dass Wildkräuter möglichst breiten Einzug in unseren Alltag finden. Ob in der Küche für Spei-sen und Tees, in der Kosmetik etwa als Salben oder als bewährtes Heilmittel zur Gesundung oder zur Vorbeugung von Krankheiten.
Selbst kocht die Mutter zweier erwachsener Töchter zwar auch, doch während der Woche geht sie aus Zeitgründen mittags essen. Das wurde anfangs in ihrem Dorf kritisch beäugt. „Als Ernährungswissenschaftlerin und als Frau muss man stets selbst kochen, heißt es hier", sagt sie und lacht. Die ruhige, selbstbewusste Frau bricht mit den Erwartungshaltungen. „Da gibt es immer noch viele Zwänge."
Die Kräuter für ihren eigenen Bedarf sammelt sie bevorzugt im nahe gelegenen Heutal, ein Sackgassental ohne großen Autoverkehr. Seit Langem besitzt ihre Familie in dem idyllischen Tal eine kleine Almhütte, die ihr als Rückzugsort und Schreibstüberl dient.
In ihrer Arbeit gibt sie ein Stück dieser alpinen Lebenswelt weiter. „Vor 20 Jahren habe ich mir immer gewünscht, dass man davon auch leben kann. Doch nie hätte ich gedacht, dass die alpine Heilkunde so einen Anklang finden würde und ich daraus einen Vollerwerb kreieren könnte."
Und wie geht es weiter? Neben den vielen Buchprojekten träumt Karin Buchart davon, einen begehbaren Ort zum Lernen zu erschaffen. „Dort sollen Menschen in einfachen Workshops erfahren, wie man Heilmittel selbst herstellt und anwendet. Noch ist dieses Projekt eine vage Idee." Doch wenn man Karin Buchart kennengelernt hat, darf man annehmen, dass aus dieser Idee künftig Realität wird. Darauf einen ihrer wunderbaren Kräuterliköre!