In einem knappen Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Grünen hat die SPD die Berliner Abgeordnetenhauswahl gewonnen.
Manchmal ärgert man sich zu früh. So zum Beispiel ein junger Sicherheitsmitarbeiter in der Kantine des Berliner Abgeordnetenhauses am Sonntagabend um halb sieben, als er von den ersten Hochrechnungen erfährt. „Die Grünen haben gewonnen", ruft ihm der Kassierer hinter der Kantinentheke zu. „Wie jetzt? Baerbock?" Antwort: „Nein. In B-e-r-l-i-n!" Der Sicherheitsmann schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn: „Ich fasse es nicht. Wie blöd muss man sein? Wie blöd sind die Berliner?" Er trinkt seinen Kaffee aus, verlässt kopfschüttelnd und ohne jede weitere Erklärung die Kantine. Später am Abend, gegen 21 Uhr, wird aber klar, dass die Grünen doch nicht gewonnen haben. Sie haben die Mehrheit in der Hauptstadt aber nur knapp mit ihren 18,9 Prozent verfehlt. Damit hat die Partei um die grüne Spitzenkandidatin Bettina Jarasch ihr stärkstes Ergebnis in Berlin überhaupt eingefahren.
Sieger der Abgeordnetenhauswahl ist dennoch die SPD. Nach Auszählung aller Stimmbezirke erreichte die Partei mit Spitzenkandidatin Franziska Giffey am Sonntag 21,4 Prozent.
Neues Polit-Trio wird Berlin jetzt führen
Für Franziska Giffey und Bettina Jarasch war es ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die 52-jährige bislang noch relativ unbekannte Grünen-Politikerin sagt im Hinblick auf die hohen Zustimmungswerte, es sei klar, dass in Berlin „grüne und soziale Politik in die Regierung gehörte". Die Christdemokraten erreichten nach Angaben der Landeswahlleitung 18,1 Prozent. Ihr Spitzenkandidat Kai Wegner soll zudem jetzt Vorsitzender der neuen 30-köpfigen CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus werden. Die Linke erzielte 14 Prozent und verlor dadurch 1,6 Prozentpunkte im Vergleich zu 2016. Deutliche Verluste musste die AfD hinnehmen: In Berlin kam sie auf 8,0 Prozent, das sind 6,2 Prozentpunkte weniger als noch vor fünf Jahren. Die FDP bekam 7,2 Prozent der Stimmen, damit ist auch sie erneut im Abgeordnetenhaus vertreten. Die Partei um Spitzenkandidat Sebastian Czaja konnte 0,5 Prozentpunkte hinzugewinnen.
Künftig kann die Hauptstadt wie zuvor nur von einem Dreierbündnis regiert werden. Fraglich ist allerdings, ob das bisherige Trio wieder aus den Linken, der SPD und den Grünen bestehen wird. Rein rechnerisch könnte es auch zu einer Ampelkoalition aus SPD, den Grünen und den Liberalen kommen. Und auch ein Bündnis mit der Berliner CDU ist nicht ausgeschlossen. Gewinnerin Franziska Giffey jedenfalls hält sich alle Optionen offen. „Für mich ist unser Programm der Kompass", so die Berliner Sozialdemokratin gegenüber dem RBB-Programm „Radio Eins". Giffey wolle so viel wie möglich davon hinbekommen in Koalitionsverhandlungen und werde „mit den Partnern zusammenarbeiten, mit denen das am besten für die Stadt gelingt".
So einiges lief an diesem Superwahlsonntag in der Hauptstadt nicht ganz so rund – vor allem bei der Organisation der Wahlabläufe, der Ausstattung der Wahllokale. Es war in Berlin zweifelsohne ein Superwahlsonntag, mussten die Menschen doch hier für gleich mehrere Entscheidungen auch verschieden große und farbige Wahlbögen ausfüllen und in drei unterschiedliche Urnen werfen. Denn insgesamt konnten sechs Kreuze gemacht werden: zwei für die Wahl des Abgeordnetenhauses, zwei für die Bundestagswahl, eines für die Bezirksverordnetenversammlung und eines für den Volksentscheid über die Enteignung großer Wohnungsbaugesellschaften. Doch für die Wahl der Superlative – ausgerechnet noch am Tag des Berlin-Marathons, der für viele Sperrungen in der Stadt sorgte, schienen die Organisatoren nur unzureichend vorbereitet. Online-Medien berichten von improvisierten Wahlkabinen aus Umzugskartons oder Transportkisten, in einem anderen Wahllokal wurde erst eine zusätzliche Kabine im Laufe des Vormittags geliefert, zuvor hatten sich lange Schlangen vor dem Wahllokal in einer Schule gebildet. Teilweise wurden Wahlzettel für die verschiedenen Bezirksparlamente vertauscht, sodass die Wahllokale geschlossen wurden. Anderswo gingen die Wahlzettel aus. Doch eben wegen des Berlin-Marathons kam der angeforderte Nachschub nicht durch. So standen an vielen Standorten die Menschen Schlange. CDU-Spitzenkandidat Wegner nahm das zum Anlass um zu wettern: „Rot-Rot-Grün kann noch nicht mal eine ordentliche Wahl organisieren". In den sozialen Netzwerken machte sich am frühen Abend des Wahlsonntags der Unmut breit. Eine Userin aus Berlin-Prenzlauer Berg schrieb auf dem Nachrichtendienst Telegram, dass sie seit eineinhalb Stunden warte. „So etwas habe ich noch nie erlebt", schrieb eine andere. „Ich war fünf Mal da", ärgerte sich eine Dritte. Auch als um 18 Uhr die Wahllokale offiziell geschlossen wurden, warteten Wahlwillige noch bis fast 20 Uhr, bis sie an der Reihe waren. Da waren allerdings bereits erste Hochrechnungen veröffentlicht worden. Von Etlichen ist anzunehmen, dass sie entnervt aufgegeben, auf eine Stimmabgabe verzichtet und lieber die warmen, spätsommerlichen Temperaturen in der Stadt genossen haben. Gründe für die Organisationspannen sind derzeit noch nicht bekannt. Mittlerweile hat die Berliner Landeswahlleiterin, Petra Michaelis, eine Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus nicht gänzlich ausgeschlossen. Bei einer Pressekonferenz im Roten Rathaus sagte sie, zunächst müsse eine Bestandsaufnahme gemacht werden. Dabei sei entscheidend, ob es „mandatsrelevante" Fehler gegeben habe. Das heißt, ob Sitze im Parlament bei einer korrekten Durchführung der Abgeordnetenhauswahl anders verteilt gewesen wären.
Mit 55 Prozent ist das Quorum erreicht
Klarheit indes herrscht über den Volksentscheid über den „Beschluss zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs durch den Senat zur Vergesellschaftung der Wohnungsbestände großer Wohnungsunternehmen". Das Quorum der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen" ist damit erfüllt, auch wenn bis zum Redaktionsschluss noch nicht alle Bezirke ausgezählt waren. So sprachen sich deutlich über 55 Prozent für die Vergesellschaftung aus, rund 39 Prozent dagegen. Nach Angaben der „Berliner Morgenpost" könnte es jetzt um Wohnungsbestände von 29 Genossenschaften und zwölf Wohnungsunternehmen gehen. Grünen-Politikerin Bettina Jarasch warb dafür, den Volksentscheid ernstnehmen. „Das gehört in Koalitionsverhandlungen", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. Die Politik müsse nun prüfen, ob eine Umsetzung des Bürgervotums machbar sei. „Es gibt für ein solches Gesetz aber noch viele rechtliche und praktische Fragen zu klären." Gleichzeitig warb die Grünenpolitikerin alternativ für ihr Konzept eines „Mietenschutzschirms". Dieser Schutzschirm ist ein freiwilliger Pakt zwischen Politik, Vermietern und anderen Beteiligten für den Neubau von Wohnungen und faire Mieten. „Die Wohnungsunternehmen haben das in der Hand", so Jarasch. Alles in allem wird es einige Veränderungen in der Hauptstadt geben und möglicherweise auch noch Überraschungen. Eines aber ist jetzt schon klar: Nach sehr langer Zeit – nur von 1947 bis 1948 wurde Berlin kommissarisch von Louise Schroeder (SPD) regiert – wird nun wieder eine Frau in der Hauptstadt die Regierungsgeschäfte übernehmen.