Bisher kennt man autonome Fahrzeuge allenfalls aus dem Pkw- oder Bus-Bereich. Die Uni Magdeburg arbeitet daran, dass auch Fahrräder in Zukunft ohne Fahrer radeln könnten – als Last-Transporter.
Fünf Jahre ist es her, da verkündete Google wieder einmal eine Revolution. Der IT-Konzern veröffentlichte ein Video, in dem ein Fahrrad ohne Fahrer durch Amsterdam gondelt. Nachdem es selbstständig ausgeparkt hat, überquert es eine Kreuzung, umfährt eine Straßenbahn, weicht Fußgängern aus und hält an einer roten Ampel. Später steigen zwei Kinder auf, die sich vom „Google Bike" durch die Stadt kutschieren lassen. Nicht wenige hielten das Produkt für real. Doch dann die große Enttäuschung: Hochgeladen hatte Google das Video am 1. April 2016, womit die Sache ja klar war.
Die gute Nachricht: Der Traum vom selbstfahrenden Fahrrad muss kein Aprilscherz sein. An der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg arbeitet ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern tatsächlich an einem solchen Gefährt. „Unser Prototyp kann in Ansätzen alles", sagt Projektleiter Stephan Schmidt, 38. „Es kann sich selbst lokalisieren, Hindernisse erkennen und umfahren, Routen planen und per App angefordert werden."
Keine Zulassung für den Straßenverkehr
Um ein klassisches Zweirad handelt es sich jedoch nicht, stattdessen um ein Lastenrad mit zwei Vorderrädern und einem Hinterrad. „Bei unseren Testfahrten montieren wir hinten zusätzlich Stützräder dran", sagt der Diplom-Ingenieur. Einmal sei die Erfindung bei einer Kurvenfahrt schon umgekippt, seitdem gehe man auf Nummer sicher. „Wir wollen die teure Technik nicht kaputtmachen."
Das Gefährt nennt sich RavE-Bike, kurz für: „Ruf- und Leitsystem für autonome vernetzte E-Bikes". Zwischen den beiden Vorderrädern ruht eine tellergroße GPS-Antenne, mit der sich das Fahrrad selbst orten kann. Dahinter ein Motor, der den Lenker steuert. An Letzterem sind eine Stereokamera und ein Laserscanner angebracht, um Objekte auf der Straße erkennen zu können. Dort, wo später einmal Lasten transportiert werden sollen, ruht eine Metallkiste, in der sich die Rechenelektronik befindet. Oben drauf: ein W-Lan-Router mit Antennen, der die Verbindung mit externen Servern herstellt.
„Auf einem großen Werksgelände ließe sich ein solches Fahrrad gut einsetzen", sagt Projektleiter Schmidt – etwa, um Werkzeug von A nach B zu schaffen. Ebenfalls möglich: Paketdienste, Pizza-Lieferungen oder medizinische Transporte. „Danach fährt das Fahrrad zu seinem ursprünglichen Ort zurück", skizziert Schmidt seine Vision. Komplett verwirklicht ist der Plan nämlich noch nicht. Bisher hat das autonome Fahrrad keine Zulassung für den Straßenverkehr; es darf nur auf privatem Gelände fahren. Auch Personen sollten lieber nicht aufsteigen. „Das wäre ganz schön wackelig und fühlt sich an, als ob der Sattel unterm Hintern wegrutscht", sagt Schmidt. Er grinst. „Wir wollen Waren transportieren – und kein Robo-Taxi sein."
Bei der Entwicklung stehen die Wissenschaftler vor ähnlichen Herausforderungen wie die Autoindustrie. „Was passiert, wenn etwas wirklich Unvorhergesehenes passiert?", fragt Schmidt. „Reagiert das Fahrrad dann so, wie es soll?" Um das zu testen, hat sein Team einen Parcours im Magdeburger Hafen eingerichtet, abgeschottet von der Außenwelt. „Wir haben die Strecke genau kartiert", sagt Schmidt. „Dadurch kann sich das Fahrrad besser zurechtfinden." Im Sommer 2020 startete der erste Freiluft-Versuch. Überwacht von mehreren Mitarbeitern drehte das „RavE-Bike" mit bis zu 25 km/h seine Runden, stoppte vor geparkten Autos und herumstehenden Containern – alles automatisch, wie das Forschungsteam versichert.
Langfristig soll das autonome Fahrrad auch im urbanen Raum unterwegs sein. Für die nahe Zukunft ist jedoch das Werksgelände-Szenario das realistischere. „Auf solchen abgeschlossenen Arealen passiert weniger Unvorhergesehenes", erklärt Schmidt. „Da rollt nicht mal eben ein Fußball auf die Straße." Zudem stellten sich auch Fragen jenseits der Technik, zum Beispiel zu Vandalismus: Wie verhindert man, dass ein Unbefugter die Pizza aus dem Fahrrad klaut? Alles noch unklar. Etwa 30.000 Euro hat der Prototyp laut Schmidt gekostet, gefördert unter anderem mit Mitteln des Bundesbildungsministeriums. Wann mit einer Marktreife zu rechnen ist, vermag er noch nicht genau abzuschätzen. „Mindestens fünf Jahre", schätzt er, unter günstigen Bedingungen. Und die Konkurrenz schläft nicht: In den USA experimentieren Versanddienste wie Amazon bereits seit Längerem mit autonomen Lieferrobotern. Die sehen zwar eher aus wie Staubsauger, erfüllen aber den gleichen Zweck: Ware von A nach B transportieren – schnell und ohne Fahrer.