Nach Unstimmigkeiten bei der Abgeordnetenwahl wird in vielen Berliner Bezirken nachgezählt. Zeitgleich beginnt die SPD mit ersten Sondierungsgesprächen, und eine Kleinstpartei tritt in die BVV ein.
Nach den Pannen um das Superwahlwochenende lichtet sich allmählich der Nebel des Chaos’ in der Kapitale. Wenige Tage nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus haben die Parteispitzen der Wahlsiegerin SPD um die designierte Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey mit ersten Sondierungen zur Regierungsbildung begonnen. Zunächst sprachen die Sozialdemokraten mit den Grünen, danach mit den Linken und in dieser Woche mit der CDU sowie der FDP. Die SPD hatte die Wahl trotz ihres schlechtesten Nachkriegsergebnisses von 21,4 Prozent gewonnen. Franziska Giffey, die in der Vergangenheit durch Plagiatsaffären um ihre Master- und Doktorarbeit in die öffentliche Kritik geraten war, kann sich jetzt die Koalitionspartner aussuchen.
Außer den Linken und den Grünen rechnen sich auch CDU und FDP Chancen aus, eine Koalition mit der SPD eingehen zu können. „Wenn die SPD es ernst gemeint hat mit dem, was sie im Wahlkampf gesagt hat, dann gibt es sehr viele Übereinstimmungen zu unserem Wahlprogramm", sagte CDU-Landesvorsitzender Kai Wegner gegenüber der „Berliner Morgenpost". Die SPD müsse sich entscheiden, so der Spitzenkandidat. „Jetzt muss die SPD Farbe bekennen, ob sie ein ‚Weiter so‘ oder einen echten Neustart für Berlin will." Nach Wegners Dafürhalten wäre eine Ampel-Koalition aus SPD, FDP und den Grünen „letztlich ein ‚Weiter so light‘ ".
Politische Weichen gestellt
Kai Wegner war erst vor wenigen Tagen an die Spitze der neuen der CDU-Fraktion gewählt worden. Für den 49-jährigen Berliner votierten 24 von 29 anwesenden Abgeordneten bei einer Gegenstimme und vier Enthaltungen. Damit enthielt er eine Zustimmung von 82,8 Prozent. Auch bei der Wahlsiegerin selbst wurden wichtige personelle Weichen gestellt. So wurde bei der SPD-Fraktionssitzung Raed Saleh mit 91,4 Prozent in das Amt gewählt. Damit führt der 44-Jährige die neue, 36 Abgeordnete umfassende Fraktion der Sozialdemokraten an.
Während Franziska Giffey sich selbst noch alle Optionen offenhält, mit wem sie wahrscheinlich ab Mitte Oktober in Koalitionsverhandlungen treten will, versuchen die Bezirksämter unterdessen, Ordnung ins Chaos des Superwahlwochenendes zu bringen. Dabei geht es um teilweise äußerst knappe oder sehr auffällige Ergebnisse, nicht ausreichend vorhandene und vertauschte Wahlzettel (FORUM berichtete in Ausgabe 40/2021). Zudem waren etliche Wahlberechtigte unverrichteter Dinge wieder weggeschickt worden. Laut einer Analyse des Rundfunksenders RBB soll es auffallend viele ungültige Stimmen in 99 der mehr als 2.200 Berliner Wahlbezirke geben. Mehr als 13.000 Stimmen sollen es insgesamt sein. Der genaue Umfang und mögliche konkrete Auswirkungen der Unstimmigkeiten auf das Wahlergebnis werden zunächst dezentral aufgeklärt. Das könnte sich noch etwas in die Länge ziehen.
Allerdings haben erste Neuauszählungen schon begonnen. So lässt der Berliner Bezirk Reinickendorf die Erststimmen für die Abgeordnetenhauswahl im Wahlkreis 2 auf Bitten von Emine Demirbüken-Wegner (CDU) nachzählen. Ihr sozialdemokratischer Konkurrent Jörg Strödter soll mit nur 42 Stimmen Vorsprung den Wahlkreis bei der Wahl für das Abgeordnetenhaus gewonnen haben. Aber allein rund 300 Stimmen sind ungültig, und schon angesichts der zahlreichen bekannt gewordenen Pannen will Demirbüken-Wegner klären lassen, ob sie nicht doch ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen kann. Auch in Steglitz-Zehlendorf werden 34 Stimmbezirke neu ausgezählt, zwei Drittel davon betreffen die Briefwahl. Im Berliner Bezirk Pankow geht es zunächst um acht Stimmbezirke. Hinzu kommen alle Erststimmen aus Wahlkreis 3. Klaus Lederer, Kultursenator von den Linken fehlen in seinem Wahlkreis gerade einmal 30 Stimmen auf Grünen-Kandidatin Oda Hassepaß. Der Senator hatte deshalb schon in der vergangenen Woche eine Nachzählung verlangt.
Genaue Ergebnisse der Nachzählungen in verschiedenen Wahlbezirken würden aktuell noch anhand der ausgefüllten Niederschriften überprüft, um dann im Bezirkswahlausschuss verkündet zu werden. Aber bereits jetzt werden erste Auswirkungen deutlich: Im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf verlor Franziska Becker (SPD) ihren Vorsprung. Nur acht Stimmen Vorsprung hatte sie ursprünglich vor ihrem Konkurrenten Alexander Kaas Elias. Doch die Nachzählung vor einer Woche ergab, dass der Grünen-Politiker mit 23 Stimmen tatsächlich vor ihr liegt. Laut Internetseite des Bezirksamtes hatte der Grünen-Politiker 6.399 Erststimmen erhalten, die Zweitplatzierte Franziska Becker 6.376 Stimmen. Dadurch zieht jetzt Alexander Kaas Elias als direkt Gewählter ins Abgeordnetenhaus. Dennoch wird auch Franziska Becker wahrscheinlich im Landesparlament sitzen können, schließlich ist sie über einen Listenplatz ihrer Partei abgesichert.
Erste Ergebnisse korrigiert
Einen unerwarteten Sieg gab es übrigens in vier Bezirksämtern für eine Kleinstpartei bei den Wahlen für die Bezirksverordnetenversammlungen (BVV): Der Tierschutzpartei gelang zwar nicht der Einzug ins Abgeordnetenhaus, aber sie erreichte 3,1 Prozent bei den Wahlen für die BVV in Berliner Randbezirken. So erhielten die Umwelt- und Tierschützer insgesamt neun Mandate. In Marzahn-Hellersdorf kamen sie auf fünf Prozent, in Spandau und Lichtenberg jeweils auf 4,5 Prozent und Treptow-Köpenick auf 3,7 Prozent. Aber auch bundesweit konnte die Kleinstpartei punkten. „Wir", schreiben sie auf ihrer Webseite, „sind erstmals die stärkste Kraft unter all den Parteien geworden, die nicht bereits in Bundes- oder Landesparlamenten sitzen – die ‚größte kleine Partei‘ also, die stärkste außerparlamentarische Opposition in Deutschland". Gute Ergebnisse erzielte die, mittlerweile 30-jährige Partei nicht nur in Berlin, sondern auch im Saarland mit 2,8 sowie in Brandenburg mit 2,6 Prozent. „Ein großes Danke also abschließend allen Wählerinnen und Wählern, die ihre Stimme den Stimmlosen und Schwächeren gegeben haben", heißt es da nur folgerichtig auf der Homepage der Partei.