War es Übermut oder wollten sie auf diesem Weg als Künstlerinnen auf sich aufmerksam machen? Am 12. August 1900 waren Paula Becker und Clara Westhoff auf den Worpsweder Kirchturm gestiegen und hatten dort mitten am Tag laut die Glocken geläutet.
Im Nachhinein scheint die Aktion geradezu symbolhaft, denn bis dahin waren Künstler wie Fritz Mackensen, Otto Modersohn und Heinrich Vogeler das „Aushängeschild" für die Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen. Dennoch hätte der Ort ohne Frauen und Künstlerinnen niemals seine heutige Bekanntheit erlangt.
Die künstlerische Frauengeschichte von Worpswede beginnt mit Emilie (Mimi) Stolte, einer jungen Kaufmannstochter. Sie lud bei einem Besuch ihrer kunstliebenden Tante in Düsseldorf den jungen Kunststudenten Fritz Mackensen in ihren Heimatort Worpswede ein. Er kam 1884, verliebt in Mimi, zum ersten Mal in das damals einsame und unbekannte Dorf Worpswede und sollte später dort ansässig werden. Landschaft und Licht, Wolken und der weite Blick am Rande des Teufelsmoores faszinierten nicht nur ihn, sondern auch seinen Studienfreund Otto Modersohn und den Münchner Kollegen Hans am Ende.
Der kleine Ort Worpswede wurde zum „Weltdorf"
Gemeinsam gründeten sie 1889 die Künstlerkolonie Worpswede, zu der 1893/94 Fritz Overbeck und Heinrich Vogeler stießen. Und Worpswede wurde deutschlandweit bekannt – durch eine gemeinsame Ausstellung der Gruppe zur Münchner Jahresausstellung von Künstlern aller Nationen im Münchner Glaspalast. Mackensens Monumentalgemälde (circa 3 mal 5 Meter) „Gottesdienst im Freien", an dem er von 1884 bis 1885 arbeitete, wurde mit einer Goldmedaille 1. Klasse ausgezeichnet. Fortan waren Mackensen und die gesamte Worpsweder Gruppe eine feste Größe im Kunstbetrieb. Fritz Mackensen selbst schrieb später an die Familie Stolte: „…denen es zu danken ist, dass ich Worpswede für die Kunst entdeckte und dadurch der Ort zum Weltdorf wurde". Da Frauen bis 1918 keinen Zugang zu den staatlichen deutschen Kunsthochschulen hatten, nahmen Schülerinnen nunmehr auch in Worpswede privaten Kunst- und Malunterricht. Mackensen unterrichtete Paula Becker, Clara Westhoff sowie Ottilie Reylaender und Hertha Stahlschmidt. Zwischen Schülerinnen und Lehrern, Malern und Modellen entwickelten sich Beziehungen, aus denen Ehen wurden. Paula Becker beispielsweise heiratete Otto Modersohn und Hertha Stahlschmidt Fritz Mackensen. Ehefrau von Fritz Overbeck wurde seine Schülerin Hermine Rohte. Rainer Maria Rilke und Clara Westhoff wurden ein Paar ebenso wie Heinrich Vogeler und sein Modell Martha Schröder.
In diesen Künstler-Ehen und -Beziehungen mussten die Frauen oft die Balance zwischen tradiertem Geschlechterbild und ihrem Selbstverständnis als Künstlerin finden. Das bedeutete für die Malerinnen ein stetiges Ringen um ihre künstlerische Unabhängigkeit. Nicht immer ging die Verflechtung von Leben und künstlerischem Schaffen auf.
Einige der Worpsweder Malerinnen gaben die künstlerische Arbeit auf, andere verfolgten konsequent ihren Weg. Nach Veröffentlichung des Buches „Worpswede – Monografie einer Landschaft und ihrer Maler" von Rainer Maria Rilke trennte sich Clara von ihm. Er hatte nämlich in dem Band weder sie noch ihre Freundin Paula Erwähnung finden lassen – lediglich die Männer der Worpsweder Künstlerkolonie.
„… dass ich mich verheirate, soll kein Grund sein, dass ich nichts werde", schrieb Paula Becker am 3. November 1900 in einem Brief an ihre Mutter vor der Hochzeit. Sie sollte Recht behalten. 120 Jahre später stehen unübersehbare, großformatige Plakate mit Zitaten und ihren bekannten Bildern im Rahmen des Projekts „frauenOrt Niedersachsen" in Worpswede auf dem Platz vor der Galerie Altes Rathaus. Der Ausstellungsort ist gut gewählt, zieht es zum einen doch sehr viele Neugierige an. Zum anderen weist der Standort auf das Armenhaus hin, in dem Paula Modersohn-Becker viele Motive ihrer Bilder fand: „Sogar nach dem Abendbrot stürzen wir uns (…) hinüber ins Armenhaus und malen Farbenstudien von der Kuh, der Ziege, der dreibeinigen Alten und all den Armenkindern (…)".
Paula Modersohn-Becker, die erst nach ihrem Tod als expressionistische Malerin Anerkennung fand, wurde Anfang dieses Jahres als berühmteste Künstlerin des Ortes in den Kreis „frauenOrt Niedersachsen" aufgenommen. In diesem Rahmen gibt es eine Sonderausstellung im Museum am Modersohn-Haus, die Paula als starke Frau ihrer Zeit porträtiert. Mit Gemälden und Zitaten aus ihren Tagebüchern und Briefen, die die gesellschaftliche Situation um die Wende zum 20. Jahrhundert aufzeigen. Neben Modersohn-Becker zählt Martha Schröder zu den Worpsweder Malerinnen, die den Ort bis heute prägen. Sie ist auf dem Bild „Gottesdienst im Freien" von Fritz Mackensen dargestellt. „Es wird vermutet, dass es sich hier um Martha Schröder handelt, spätere erste Ehefrau von Heinrich Vogeler", erklärt die langjährige Worpsweder Gästeführerin Gitta Rehage. Martha Schröder saß oder stand den Worpsweder Malern Modell, heiratete später Heinrich Vogeler. Nach ihrer Ehe, in der sie sich künstlerisch weiterentwickelte, gründete sie 1920 das Haus im Schluh.
Inspiration für den künstlerischen Nachwuchs
Dort gelang es ihr, mit Heinrich Vogelers Frühwerken, einer Handweberei, Kunsthandwerk und einem Pensionsbetrieb ein wirtschaftlich unabhängiges Leben zu führen. Berit Müller, Urenkelin von Martha Vogeler, führt durch die Sonderausstellung anlässlich des hundertjährigen Bestehens des „Haus im Schluh" – darin wird die Künstlerin vorwiegend als Modell auf Gemälden und Zeichnungen ihres Mannes Heinrich Vogeler gezeigt. Dazu gibt es ein Kleid zu sehen, das Vogeler für seine Frau und Modell entwarf, und das auf seinem Gemälde „Frühling" von 1898 zu sehen ist. Das hier präsentierte Exemplar hat die Modestudentin Sofia Hermens Fernandez von der Royal Academy of Fine Arts in Antwerpen rekonstruiert. Ein Beispiel dafür, dass die Worpsweder Künstlerinnen und Künstler auch heute als Inspirationsquelle für den Nachwuchs angesagt sind. Und in den Museen und Ausstellungsorten des Dorfs malerische Tradition und zeitgenössische Perspektiven nebeneinander vertreten sind.
In der Kunsthalle ist zum Beispiel gerade neben Werken von Paula und Otto Modersohn eine Ausstellung der Worpsweder Malerin Frauke Migge unter dem Titel „Magie der Zeichen. Eine Retrospektive" zu sehen. Und in der Ausstellung „Tote gibt’s hier genug! Fünf lebendige Positionen" treffen drei Generationen aufeinander. Gästeführerin Rehage weist zum Abschluss des Rundgangs auf die floralen Dekorationen in der Zions-Kirche von Worpswede hin – Frühwerke von Paula Becker und Clara Westhoff. Denn die mussten laut Protokollbuch des Kirchenvorstandes „Den öffentlichen Unfug und Missbrauch mit den Kirchenglocken…" mit einer Strafarbeit in der Kirche wieder gutmachen- und taten dies mit den Malereien an den Pfeilern zur Empore.