Es steht ein heißer Turnherbst 2021 mit gleich drei Weltmeisterschaften an. Den Anfang macht die Kunstturn-WM im japanischen Kitakyushu, wo ab 27. Oktober auch die WM der Rhythmischen Gymnastik stattfindet. Zum Abschluss folgt im November die Trampolin-WM in Baku.
Der 24. Juli 2021 war fraglos der schwärzeste Tag in der erfolgreichen Karriere des besten Turners aller Zeiten. Denn nach einem Absturz von der Stange bei der Qualifikation für das Finale der Königsdisziplin Reck war für Kohei Uchimura, der von seinen japanischen Landsleuten bewundernd meist nur „King Kohei" genannt wurde, der Traum von der erhofften vierten olympischen Goldmedaille abrupt passé gewesen. Der zur Kunstturn-Legende gewordene und über fast ein Jahrzehnt schier unbezwingbare Mehrkampf-Dominator, der zwischen 2009 und 2016 alle Titel bei Olympia und Weltmeisterschaften abgeräumt und es auf insgesamt 19 WM-Medaillen und sieben Mal olympisches Edelmetall gebracht hatte, wollte im Alter von 32 Jahren zum Abschluss seiner Laufbahn noch einmal das oberste olympische Treppchen besteigen. Im Mehrkampf hatte er in Tokio wegen der zu starken jüngeren Konkurrenz keine große Chance mehr gesehen, weshalb er sich ganz auf das Reck konzentriert hatte. Doch ein Fehler bei einem vergleichsweise einfachen Element, einem verhängnisvollen Vergreifen bei einer Pirouette in Verbindung mit einem eingesprungenen Flugteil namens Stalder-Rybalko, ließ ihn das Finale der acht Besten verpassen.
Starke junge Konkurrenz
Die Goldmedaille am Reck sichertete sich sein Landsmann Daiki Hashimoto, der mit seinen 19 Jahren auch zum jüngsten Mehrkampf-Olympiasieger aller Zeiten aufsteigen und in seiner Heimat sogleich als würdiger Nachfolger Uchimuras mit dem Ehrentitel „King Daiki" gekürt werden sollte. „Ich habe meinen Zenit überschritten, das muss ich einfach in Ruhe akzeptieren" – dieser gefasste Kommentar aus dem Munde Kohei Uchimuras wurde in den Medien als eine Art von verklausuliertem Rücktritts-Statement interpretiert. Doch Überraschung: Auf der offiziellen Meldeliste der Fédération International de Gymnastique (FIG) für die 50. Kunstturn-WM der Männer im japanischen Kitakyushu (Stand 05.10.2021) war der Name des Altmeisters vertreten. Uchimura wollte nicht mit einer schmachvollen Niederlage abtreten. Zumal die 1.000 Kilometer von Tokio entfernte und 930.000 Einwohner zählende Stadt Kitakyushu sein Geburtsort ist. Dem sportlichen Wettstreit im Mehrkampf mit Daiki Hashimoto wird Uchimira wohl in der Multifunktionsarena „Kitakyushu General Gymnasium" aus dem Weg gehen und sich vermutlich wieder die eine oder andere Einzel-Disziplin heraussuchen. Da hat er die Qual der Wahl, weil er an Barren, Boden oder Reck durchaus um Medaillen und Titel mitkämpfen kann.
Im Mehrkampf der Männer wird es mit großer Wahrscheinlichkeit einen neuen König der Kunstturner geben. Weil der russische Titelverteidiger aus dem Jahr 2019 namens Nikita Nagornyy auf der Meldeliste für die vom 18. bis 24. Oktober 2021 dauernde WM nicht vertreten war. Allerdings scheint der Turnerweltverband FIG den teilnehmenden Nationen noch die Möglichkeit zu kurzfristigen Kaderumstellungen zugebilligt zu haben. Jeder der rund 60 Landesverbände darf sechs Turner melden, bei den Frauen, die ihre 41. WM veranstalten, ist das Kontingent auf vier Teilnehmerinnen beschränkt. Im Unterschied zu Olympia stehen in Kitakyushu keine Mannschaftswettbewerbe auf dem Programm. Bei den Männern werden Medaillen im Einzelmehrkampf und in den Disziplinen Boden, Seitpferd, Ringe, Sprung, Barren und Reck vergeben, bei den Damen im Einzelmehrkampf und in den Disziplinen Sprung, Stufenbarren, Schwebebalken und Boden. Der Deutsche Turnerbund (DTB) hatte bis 5. Oktober 2021 nur für die Damen durch Cheftrainerin Ulla Koch eine fixe Nominierung mit einer einzigen Athletin vorgenommen, während er bei den Männern sechs Namen gewissermaßen als Platzhalter gemeldet hatte. Weil die endgültige interne WM-Qualifikation erst für den 7. Oktober 2021 im Rahmen eines in Kienbaum abgehaltenen Trainingslagers angesetzt worden war. Cheftrainer Valeri Belenki, der ursprünglich nach Tokio seinen Posten aufgeben wollte und nun doch bis Ende 2021 weitermachen wird, kann daher erst kurz vor dem WM-Start seine Mannschaft benennen. Wer Belenkis Nachfolger werden soll, der ab 2022 ein neues Team mit Blick auf die Olympischen Spiele in Paris 2024 aufbauen soll, ist derzeit noch völlig offen.
Möglichkeit zur Kaderumstellung
Bei den Männern dürfte Daiki Hashimoto im Mehrkampf der haushohe WM-Favorit sein. Der Japaner hatte sich bei den Olympischen Spielen in Tokio zwar erst in einem denkwürdigen Finale am letzten Gerät, dem Reck, mit der besten Performance gegen drei fast gleichauf liegende Konkurrenten durchsetzen können. Aber neben Bronze-Medaillen-Gewinner Nikita Nagornyy werden bei der WM auch der chinesische Silbermedaillen-Gewinner Xiao Ruoteng und dessen Landsmann Sun Wei, Viertplatzierter von Tokio, fehlen. Bei den Damen wird es auf jeden Fall eine neue Turnkönigin auf dem WM-Thron geben. Da die US-amerikanische Titelträgerin Simone Biles ihrem phänomenalen Rekord von 25 WM- und sieben Olympia-Medaillen keine weiteren Edelmedall-Plaketten nach ihrem psychischen Zusammenbruch von Tokio und dem Verzicht auf Kitakyushu hinzufügen können wird. Wer bei den Damen im WM-Mehrkampf triumphieren wird, ist ziemlich ungewiss. Die US-amerikanische Tokio-Olympiasiegerin Sunisa Lee hat nicht gemeldet, daher dürfte es zu einem Dreikampf zwischen den Zweit- bis Viertplatzierten von Tokio kommen, der Silbermedaillen-Gewinnerin Rebeca Andrade aus Brasilien, der Bronzemedaillen-Gewinnerin Angelina Melnikowa aus Russland und ihrer Landsfrau Vladislava Urazova.
Auch in den Einzeldisziplinen sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen dürfte jede Menge Spannung angesagt sein. Weil auch in den Finalen der WM-Einzelwettbewerbe, für die sich jeweils die besten acht Teilnehmer nach einem vorgeschalteten Qualifikationsdurchgang durchsetzen müssen, überraschend viele Medaillengewinner von Tokio nicht am Start sein werden. Am Barren beispielsweise fehlen mit dem Chinesen Jingyuan Zou und dem Deutschen Lukas Dauser die Gold- und Silbermedaillen-Gewinner von Tokio, am Boden die beiden Erstplatzierten von Tokio, der Israeli Artem Dolpopyat und der Spanier Rayderley Miguel Zapata, an den Ringen die beiden chinesischen Tokio-Top-Platzierten Yang Liu und Hao You. Im Pferdsprung und am Reck sind allerdings mit dem Koreaner Jeahwan Shin und dem Japaner Daiki Hashimoto die beiden Tokio-Olympiasieger bei der WM mit dabei. Am Seitpferd könnte der japanische Bronzemedaillen-Gewinner von Tokio, Kaya Kazuma, vom WM-Verzicht des amerikanischen Goldmedaillensiegers Max Whitlock und des chinesischen Silbergewinners Chih Kai Lee profitieren. Auch bei den Frauen gab es eine ganze Reihe von prominenten Absagen. So fehlen beispielsweise die Tokio-Gold- und Silbermedaillen-Gewinnerinnen am Boden und am Schwebebalken. Beim Pferdsprung wird allerdings kein Weg an der brasilianischen Gold-Spezialistin Rebeca Andrade vorbeiführen. Am Stufenbarren hätte die für die WM nicht berücksichtigte Deutsche Elisabeth Seitz, die Fünftplatzierte von Tokio, durchaus Medaillenchancen gehabt, da sämtliche Edelmetall-Gewinnerinnen der japanischen Sommerspiele auf eine Teilnahme verzichtet haben.
Viele Absagen wegen Corona-Bestimmungen
Die vielen Absagen dürften letztendlich den aktuell noch immer sehr strengen Corona-Bestimmungen Japans geschuldet sein. Denn viele Athleten und Turnerinnen, die sich schon in Tokio bei Olympia den harten Quarantäne-Vorgaben beugen mussten, hatten offenbar keine Lust, sich diesen persönlichen Einschränkungen nochmals zu unterwerfen. Da wäre man mit Kopenhagen, dem ursprünglich vorgesehenen WM-Veranstaltungsort, deutlich besser gefahren, doch die Dänen hatten schon im Sommer 2020 wegen der Pandemie abgewunken. Woraufhin der japanische Weltturnverbands-Präsident Morinari Watanabe das Turngipfel-Treffen an seine Heimatstadt Kitakyushu vergeben hatte.
Der DTB geht bei den Damen nur mit Pauline Schäfer-Betz, der einzigen von vier deutschen Tokio-Olympia-Teilnehmerinnen, an den Start, der vor allem am Schwebebalken realistische Finalchancen eingeräumt werden können. Sie hatte sich in zwei Qualifikationswettbewerben durchgesetzt. Die eigentlich für die WM gesetzte Chemnitzerin Sophie Scheder, Barren-Bronze-Medaillen-Gewinnerin von Rio, hatte sich kurzfristig wieder eine Verletzung zugezogen. Eine WM-Teilnahme ihrer Vereinskameradin, der 16-jährigen Lea Quaas, die sogar einen der beiden teaminternen Quali-Wettbewerbe für sich entscheiden konnte, wurde vom Verband als zu verfrüht angesehen. Bei den Männern, die in Tokio mit dem achten Platz im Mannschaftswettbewerb enttäuscht, aber mit der Barren-Silbermedaille von Lukas Dauser den Glanzpunkt gesetzt und mit passablen Plätzen 18 und 23 von Lukas Dauser und Philipp Herder im Mehrkampf-Einzel zufriedenstellend abgeschnitten hatten, wird vom Olympia-Team niemand dabei sein. Stattdessen nominierte Bundestrainer Belenki eine Mischung von (fünf) jungen und erfahrenen Athleten: Carlo Hörr, Glen Trebing (Lieblingsdisziplin Pauschenpferd und Barren), Felix Remuta (Sprung), Dario Sissakis und Altmeister Andreas Bretschneider (Reck-Spezialist mit der vom ihm erfundenen Höchstschwierigkeit, dem „Bretschneider").