Die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP können beginnen. Was schon für die Sondierungen galt, gilt erst recht jetzt: „Der Keks ist noch lange nicht gegessen" – und er krümelt erheblich.
Der Kanzler in spe hat alle Hände voll zu tun. Bei der dritten Verhandlungsrunde mit den möglichen und voraussichtlichen Regierungspartnern von FDP und Grünen konnte Olaf Scholz nur vier Stunden teilnehmen. Danach musste er – als amtierender Bundesfinanzminister – mal eben rüber in die US-amerikanische Hauptstadt, zur Finanzministerkonferenz in Washington, D.C. Ohne viele Worte musste das den Sondierern von FDP und Grünen unterschwellig signalisieren: Ihr wollt mal Regierung sein, ich bin schon Regierung. Für SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil war das ein dringendes Zeichen an die zukünftigen Verhandlungspartner, dass die Sozialdemokraten den möglichen neuen Regierungschef stellen werden und die anderen dieser Regierung angehören können – wenn sie denn wollen, selbstverständlich. Klingbeil soll die Sondierungstermine so geschickt eingetütet haben, dass mittendrin Scholz mal mit Blaulicht zum Flughafen musste.
Leisetreterei geht Klingbeil auf den Keks
Gerade dem 43-jährigen Zweimetermann und Koordinator in der SPD-Parteizentrale geht die von Scholz verordnete politische Leisetreterei seiner Sozialdemokraten langsam aber sicher auf den Keks, um im politischen Bild zu bleiben. Denn darum ging es vor allem der FDP, aber auch den Grünen bereits im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen: der SPD immer wieder zu verdeutlichen, wie können auch noch anders. „Der Keks ist noch nicht gegessen", sagte Grünen-Co-Chef Robert Habeck schon nach der Entscheidung zu den Ampel-Sondierungen.
In den CDU-Chaos-Tagen wunderten sich viele Beobachter über das beinahe stoische Verhalten von CDU-Chef Armin Laschet. Während seine eigenen Leute ihn endlich weghaben wollten, flehte ihn FDP-Chef Christian Lindner geradezu an, vorerst im Amt zu bleiben. Laschet und Lindner sind auf Du und Du, und da konnte Lindner auf dem privaten Handy auch schon mal ein paar herzliche Grüße von Habeck ausrichten, der ihm ebenfalls dringend empfahl, seinen CDU-Chefposten erstmal zu behalten, ohne dass es gleich in der „Bild" stand. Vor allem FDP-Chef Christian Lindner, aber auch die Grünen haben kein Interesse, Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet zu verlieren. Die SPD würde übermächtig in den Ampel-Verhandlungen werden, mangels tatsächlicher Jamaika-Alternative. Denn sollten Grüne und FDP mit der SPD tatsächlich in einer inhaltlichen Sackgasse landen: Mit wem sollten sie ohne Armin Laschet bei der Union verhandeln – oder zumindest androhen, es tun zu wollen?
Solche politisch eigentümlichen Konstellationen können schon mal zu neuen Männerfreundschaften führen. In diesem Fall zum Duo Robert Habeck und Christian Lindner. Der grüne Kinderbuchautor von der Küste und der neoliberale Selfmade-Millionär mit dem Porsche. Bei Letzterem war von Anfang an klar: Es handelt sich um einen gewieften Taktiker, bei Ersterem war bis zum Wahlabend nicht ganz klar, ob er mehr politischer Phantast oder doch Philosoph und Weltversteher ist. Doch bereits keine 24 Stunden nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis war deutlich, dass auch Robert Habeck ein knallharter Taktiker ist. Er preschte vor und stellte nach direkter Absprache mit Lindner klar, erstmal legen Grüne und FDP ihre Positionen fest und entscheiden dann, mit wem sie reden.
Bei den Sozialdemokraten rieb man sich verwundert die Augen. Eigentlich lädt der Wahlsieger zu einem ersten Gespräch. Bevor überhaupt irgendwas passiert ist, stand es bereits politisch 2:0 für die „kleinen Parteien". Damit ergibt sich nun aus Sicht der SPD bei diesen Dreierverhandlungen ein erster klarer Auftrag. Irgendwie müssen die Grünen thematisch von der FDP separiert werden, nur so kommen die Sozialdemokraten überhaupt auf Augenhöhe in die Verhandlungen, ohne gleich viel Porzellan zu zerschlagen.
Das dürfte nicht allzu schwer werden. Thematisch sind sich SPD und Grüne zum Beispiel bei der Besteuerung des CO2-Austosses einig, der Preis pro Tonne muss schneller steigen, als bisher vereinbart. Auch bei hohen Einkommen und Vermögen sollen die Abgaben steigen, frei nach dem Motto: Starke Schulter müssen mehr tragen, um Schwache zu schützen. Auch bei der Aufweichung der Schuldenbremse sind sich SPD und Grüne absolut einig, damit könnten die finanziellen Folgen der Corona-Krise bewältigt und vor allem die Klimawende finanziert werden. Dazu noch ein Tempolimit von 130 auf den Autobahnen. Damit steht zumindest die rot-grüne Regierungs-Melange, und die SPD hätte so inhaltlich die Grünen von der FDP gelöst. Denn die Liberalen sind von dieser Einigkeit Lichtjahre entfernt. Vorteil für die SPD: Rot-Grün würde nun gemeinsam versuchen, den möglichen Dritten im Bunde von seinem Regierungsglück zu überzeugen, was nicht einfach wird.
Lindner hätte als Finanzminister ein Vetorecht
„Die Finanzen", wiederholt FDP-Generalsekretär Volker Wissing seit der ersten Sondierungsrunde gebetsmühlenartig, „sind ein riesiges Problem". Doch auch dafür könnte es in einem etwaigen Koalitionsvertrag am Ende eine elegante Lösung geben. Nicht Robert Habeck sondern Christian Lindner wird Finanzminister und hätte damit als letzte Kontrollinstanz ein Vetorecht in der Ampelregierung.
Über solche Personalentscheidungen hofft man in der SPD die politische Quadratur des Kreises in den anstehenden Koalitionsverhandlungen hinzubekommen. Doch auch hier sind die Möglichkeiten begrenzt und gerade die SPD-Seite, aber auch die Grünen am Verhandlungstisch müssen obendrein noch mit einem nicht zu unterschätzenden Störfeuer aus den eigenen Reihen rechnen. Bereits vor der zweiten Sondierungsrunde machten Jusos und Grüne Jugend mobil. Beide Jugendorganisationen forderten unisono die Überwindung der „Agenda-Politik", also das Ende von Hartz IV in all seinen Schattierungen. Ganz abgesehen davon, dass das die FDP keinesfalls mitmachen würde, es träfe auch den möglichen Kanzler Olaf Scholz. Er hatte noch im vergangenen Sommer klargestellt, dass es mit ihm keine Abkehr vom derzeitigen System der sozialen Grundsicherung nach SGB I oder II geben werde. Die Grüne Jugend setzte für ihre Parteiführung in den anstehenden Verhandlungen noch einen drauf: Tempolimit 130, schöne Sache, aber bereits ab 2030 dürften dann auch keine Verbrenner-Pkw mehr zugelassen werden. So ist Klimawende. Abgesehen von SPD und FDP ist selbst bei den Grünen diese Forderung, die gegen viele Widerstände bereits auf dem Bundesparteitag im Sommer 2017 abgesegnet wurde, mehr als umstritten. Allein diese Nickligkeiten um die Abkehr von der Agenda-Politik oder ein Verbrenner-Verbot ab 2030 zeigen: SPD und Grüne haben obendrein auch noch ein strukturelles Problem zwischen ihren Parteiführungen, Basis und Wählern.
Sozialdemokraten und Grüne werden von absoluten Realpolitikern geführt, die wissen, was geht, vor allem aber, was alles nicht geht. Die Parteibasis, vor allem die Jugend, ist anders gestrickt. Gerade bei den Grünen ist aber ein Großteil der Wählerschaft eher konservativ im Sinne der Schöpfung und vor allem der „Gutbürgerlichkeit". Dort fährt man SUV, fliegt gern mit dem Flugzeug in den Urlaub und will den Sozialstaat nicht unnötig weiter aufblasen, so übereinstimmend Wahlanalysen verschiedener Institute. Dazu kommt dann noch der mögliche Koalitionspartner FDP, der das alles sowieso nicht mitmachen würde und schon gar nicht den Kohleausstieg bereits in acht Jahren.
In Anbetracht dieser schwierigen Gemengelage und dem Umstand, dass Verhandlungen mit der Union zu Jamaika mehr als unwahrscheinlich sind, gibt es in den Parteizentralen von Grünen und FDP längst das Regierungsmodell RG Plus 1. Also Rot-Grün in Duldung durch die FDP fürs parlamentarische Alltagsgeschäft. Beim Bundeshaushalt, wenn es hart auf hart kommt und neue Schulden gemacht werden müssen, könnte dann die CDU einspringen. Die Verhandlungen zum Regierungsmodell RG Plus 1 könnten dann auch sehr spannend werden. Aber das ist (noch) theoretische Spekulation.