Die CDU sucht nach Wegen für einen Neuanfang. Gesucht werden ein neues Programm und eine neue Führungsspitze. Gleichzeitig müssen gleich drei CDU-Ministerpräsidenten im kommenden Jahr um ihre Wiederwahl kämpfen.
Es ist „eine Sekunde vor zwölf“, beschreibt Wiebke Winter den Zustand ihrer Partei. Die 25-Jährige ist das jüngste Mitglied im CDU-Bundesvorstand, zugleich JU-Vorsitzende in Bremen. Der „Deutschlandtag“ der Jungen Union hat einen ersten Eindruck davon vermittelt, was auf die CDU nach dem desaströsen Wahlergebnis zukommt. Parteichef Armin Laschet hat eine Rede gehalten, bei der man den Eindruck hatte, dass sich die Gedankenwelt der letzten drei Wochen seit der Bundestagswahl langsam in Richtung Realität bewegt. In der CDU wird langsam klar, dass der 26. September kein Betriebsunfall war, sondern das Ergebnis eines langen Auszehrungsprozesses.
„Wir brauchen das neue Grundsatzprogramm“, fordert Wiebke Winter. Die Partei müsse Antworten finden auf Fragen wie: „Was ist konservativ im Jahr 2021?“ – also schlicht mal klären, wofür die CDU überhaupt noch steht. Bloß das Personal an der Spitze auszutauschen wird dabei nicht helfen. Das können sich die Unionisten als Lehrbeispiel aus dem langen schmerzhaften Prozess der SPD abgucken.
Dabei bleibt der Union eigentlich keine Zeit. Im ersten Halbjahr des nächsten Jahres stehen Wahlen auf der Agenda, die über die Verankerung in den Ländern entscheiden. Im Saarland (27. März), in Schleswig-Holstein (8. Mai) und Nordrhein-Westfalen (15. Mai) steht die Riege der jüngeren CDU-Ministerpräsidenten zur Wahl. Sie alle müssen befürchten, in den Strudel der Abwärtsspirale zu geraten.
Dass die Partei sich inhaltlich entleert hat in den Dauerregierungsjahren ist keine neue Erkenntnis. Annegret Kramp-Karrenbauer hatte es vor drei Jahren als ihre zentrale Mission angesehen, als CDU-Generalsekretärin die Partei inhaltlich neu zu orientieren – und dabei vor allem der Basis wieder ein deutliches Gehör zu verschaffen. Der Ausgang ist bekannt.
Ausgerechnet jetzt scheint es bei der CDU unvermeidlich, endlich die Basis zu Wort kommen zu lassen. Das gilt vor allem erst einmal bei der Auswahl des Personals. Ein erster tastender Schritt ist die große Konferenz der Kreisvorsitzenden Ende Oktober. Dabei wird deutlich, wie wenig Erfahrung die CDU mit parteibasisdemokratischen Elementen hat. Rekrutierung verlief bislang eher dadurch, dass die Dauerregierungspartei ihre Möglichkeiten nutzte, junge Menschen in den Politik- und Regierungsbetrieb zu integrieren. Was in der Opposition logischerweise an Grenzen stößt.
Personal für die neue Doppelaufgabe, einen inhaltlichen Programmprozess zu organisieren und zu leiten, dabei gleichzeitig die Partei strukturell neu aufzustellen, zu finden, wird schwierig. Die Parteizentrale, das Konrad-Adenauer-Haus, war es gewohnt, dass Politik im Wesentlichen im Kanzleramt gemacht wird. Unter Bedingungen der Opposition werden schließlich auch die Mittel deutlich knapper. Es geht an die Substanz, wenn nicht nur in der Parteizentrale das große Rechnen im Gange ist. Wahlkreisbüros fallen weg, ebenso Abgaben von Abgeordneten an die Parteikasse. Zuschüsse fallen schmäler aus.
Wenn dann noch die Führungsfrage, im Raum steht, bei der es nicht nur um einen neuen Vorsitzenden geht (Frauen sind derzeit nicht im Gespräch), sondern darum, die gesamte Führung neu aufzustellen, kann das die Wahlkämpfer in den Ländern kaum begeistern. Dass sie diesmal keinen Rückenwind aus Berlin bekommen ist klar – aber dann soll es bitte auch kein Gegenwind mit einem dauernden Selbstzerlegungsprozess werden, dürften sich Tobias Hans (Saarland), Daniel Günther (Schleswig-Holstein) und der Neue in Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, Nachfolger von Armin Laschet, dringend wünschen.Allen in der Union ist vor Augen, wie viele Vorsitzende die SPD zerschlissen hat, auf der quälende Suche, neu Tritt zu fassen, und wie viele Wahlkämpfer in den Ländern, egal, wie gut sie aufgestellt waren, sich nicht wirklich aus dem Zustand der Bundespartei absetzen konnten. Und mit wie vielen Beteiligungselementen die SPD experimentiert und gearbeitet hat, bis sie an das Ziel gekommen ist, das sie jetzt greifbar vor Augen hat.
Mit all dem hat die Union praktisch keine Erfahrung. Wenn sich jetzt mit Tilman Kuban ein JU-Vorsitzender aufmacht und die „Ärmel aufkrempelt“, ist er in Gesellschaft vieler, die jetzt nach Neuanfängen in der Union rufen. Da gehört ein Hans-Georg Maaßen vom rechten Parteiflügel ebenso dazu wie die wahlkämpfenden Ministerpräsidenten und die Laschet-Nachfolgekandidaten in Spe, von Friedrich Merz über Jens Spahn, Norbert Röttgen bis Ralph Brinkhaus. Dass sie allesamt Mitverantwortung, wenn auch auf recht unterschiedliche Art, an dem Desaster tragen, ist ihnen schon klar, wenn auch ebenfalls unterschiedlich ausgeprägt. Niederlagen haben im politischen Geschäft noch nie sonderlich zusammengeschweißt. Wer sich jetzt um den Vorsitz bemüht, ist selber schuld, heißt es gelegentlich fast schon etwas mitleidig.
Es wird eine Zeit des Ãœbergangs
Eine Quälerei wie erst um den Parteivorsitz und dann um die Kanzlerkandidatur wollen alle vermeiden, nur ist derzeit weder in Sicht, dass sich intern irgendeine Personalfrage in einigermaßen Konsens klären ließe. Die Wahl des Fraktionsvorsitzenden Brinkhaus mit einem Kompromiss, bei dem keiner wirklich gewonnen hat, hat einen Eindruck vermittelt. Noch will sich jemand allen Forderungen zum Trotz so wirklich in das Abenteuer einer Basisentscheidung stürzen. Denn was und wie eine weitgehend entnervte Parteibasis in dieser Situation entscheiden würde, könnte mehr mit Vergangenheitsbewältigung und tiefsitzendem Frust als mit einem Blick nach vorne zu tun haben. Was in diesem Fall nicht gerade nach strukturiertem Neuanfang aussehen würde. Aber auch das ist Spekulation.
Mögliche Hoffnungsträger wie die junge Wiebke Winter, die für eine Klimaunion kämpft und damit auch im Kompetenzteam von Laschet vorgestellt wurde, haben erst gar nicht den Sprung in den Bundestag geschafft. Tilmann Kuban hat ein Direktmandat deutlich verpasst, ist aber über die Landesliste Niedersachsen in den Bundestag eingezogen und sitzt dort in einer Fraktion, der ebenfalls eine ganz neue Rolle zukommt. Nicht nur, dass sie die Oppositionsrolle neu lernen muss, sie ist auch ein geschrumpftes Machtzentrum, aus dem die Neuaufstellung der Union maßgeblich beeinflusst wird, das aber die Partei in der Breite nicht umfassend repräsentiert.
Dass Annegret Kramp-Karrenbauer auf ihr Mandat verzichtet hat, wird von nicht wenigen als Verlust gewertet. Gerade ihre partei- und fraktionsinternen Auftritte in der jüngsten Zeit, sei es in der Afghanistan-Krise oder nach der verlorenen Wahl, haben, so schildern es Teilnehmer, den Eindruck hinterlassen, als spräche dort eine Vorsitzende. Die hat sich aber erst mal zurückgezogen, verständlicherweise kein leichter Schritt.
In der derzeitigen Phase wird so ziemlich alles an Modellen, was die Konkurrenz längst ausprobiert hat und/oder praktiziert, auch für die Union eingefordert, von einer Doppelspitze bis zum Basisentscheid. Auch die Forderung, jetzt erst einmal einen Übergangsvorsitzenden zu wählen, ist als Variante in den Raum gestellt worden. Den wahlkämpfenden Ministerpräsidenten käme das womöglich gar nicht so ungelegen, würde es doch so manche Auseinandersetzung vertagen. Dass sich ein solches Denkmodell durchsetzen wird, ist gerade in der CDU wenig vorstellbar. Auch wenn möglicherweise der ein oder andere davon ausgehen mag, dass der nächste Vorsitzende wohl nur eine Lösung für den Übergang sein kann.