In Berlin nimmt die „Ampel“ langsam Gestalt an. Während die Partner in spe über Details künftiger Regierungspolitik verhandeln, drängt der Sozialverband VdK auf eine „Offensive für den vorsorgenden Sozialstaat“.
Im Prinzip ist die Rollenverteilung ziemlich klar: „Die FDP kümmert sich um Steuern, die Grünen ums Klima, die SPD muss sich um die Wirtschaft kümmern – dann müssen wir das Soziale in den Mittelpunkt rücken, damit in Deutschland die dringend notwendige sozialere Politik für die Mehrheit der Menschen nicht unter die Räder kommt“, sagt Armin Lang, Landesvorsitzender des Sozialverbandes VdK Saarland und bundesweit bestens vernetzter Sozialpolitiker.
Hinter den großen Themen wie verlässliche Gesundheitsversorgung, bezahlbare würdige Pflege, Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung stünden „neue soziale Fragen mit gravierenden Herausforderungen für viele Politikbereiche zur Lösung an“. Die Sozialpolitik in den nächsten vier Jahren müsse geprägt sein von den Erfahrungen und Erkenntnissen aus der Pandemie, den kürzlich erlebten Wetterkatastrophen und einem Klimawandel, der immer mehr an Fahrt gewinne.
Klimagerechte Mobilitätswende
Die dadurch drohende soziale Spaltung zu verhindern, sei die zentrale Herausforderung, betonte Wolfgang Lerch, ehemaliger Abteilungsleiter bei der Arbeitskammer des Saarlandes und heute ehrenamtlich tätiger Experte im VdK Landesvorstand für die großen sozialen Zukunftsfragen. Lerch nennt die Digitalisierung mit ihren Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft und den dadurch beschleunigten Strukturwandel in der Arbeitswelt mit wegbrechenden, aber auch neu entstehenden Arbeitsplätzen. Hinzu komme der demografische Wandel mit sozialen Auswirkungen im Wohn- und Versorgungsbedarf. Nötig sei jetzt eine „Offensive für den vorsorgenden Sozialstaat“, betonen die Sozialexperten.
Damit die soziale Schieflage in Deutschland nicht noch schlimmer werde, müssten die finanziellen Folgen der Krisen sozial ausgeglichen finanziert werden. Wer mehr Einkommen und Vermögen habe, müsse eindeutig mehr bezahlen. „Der derzeit noch verbliebene Solidaritätszuschlag muss schnellstens in einen ,Klima-Soli‘ umgewandelt werden. Die Beitragsbemessungsgrenze in den Sozialversicherungen muss angehoben werden, um Kürzungen und Unterfinanzierung bei Gesundheits- und Pflegeleistungen zu verhindern“, sagt Lang. Mehr Solidarität sei nötig von jenen, die bisher mehr aus den Sozialsystemen herausbekommen, als sie einzahlen.
Was sich im Konkreten hinter den VdK-Forderungen zum „vorsorgenden Sozialstaat“ verbirgt, machen Armin Lang und Wolfgang Lerch an einer Reihe von Beispielen deutlich. „Klimawandel ist auch eine neue soziale Frage“, betont Lerch, denn „Klimapolitik ist immer auch Gesundheits- und Sozialpolitik“. Ärmere Menschen, Ältere und Kinder seien besonders betroffen, wenn es beispielsweise um die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels, die finanziellen Lasten durch die Energieverteuerung, die Vorgaben zum Einbau klimaneutraler Heizungen oder um teurer werdende Lebensmittel geht.
Menschen mit geringem Einkommen könnten diese Lasten erst gar nicht bezahlen oder hätten oft keine andere Wahl als, „zu hungern oder auf Medikamente zu verzichten, wenn es dafür keinen unmittelbaren sozialen Ausgleich gibt“, sagt Lang. Ganz aktuell zeige sich das an stark steigenden Preisen für die Grundbedürfnisse Strom und Heizung einerseits und der absolut unzureichenden Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um drei Euro pro Monat andererseits.
Deshalb sollte der Anstieg der CO2-Steuer auf jeden Fall „sozial ausgestaltet werden“ – beispielsweise durch die unmittelbare Senkung der Verbrauchssteuern, durch Zuschläge zur Grundsicherung sowie zum Wohngeld oder durch ein kostenfreies ÖPNV-Ticket. Diese Preissteigerungen müssten zudem bei den Tarifverhandlungen für die unteren Lohngruppen berücksichtigt werden. Zum „sozialen Klimapaket“ gehörten aber auch Zuschüsse für klimafreundliche Heizungen und energetische Sanierungen, die nicht zurückgezahlt werden müssen.
Weil die Wetterkatastrophen zunehmen und schwerer zu werden drohen, sei dringend Vorsorge nötig. „Die meisten Menschen in den mittleren und unteren Einkommensschichten haben keine Rücklagen, um ihre Existenz wieder so aufzubauen, dass sie nach der Katastrophe würdig leben können, wie wir jetzt im Ahrtal sehen“, sagt Lang. Deshalb müsse neben der öffentlichen Vorsorge durch klimaresistentes Planen und Bauen auch eine solidarische individuelle Risikovorsorge ermöglicht werden.
Der VdK Saarland schlägt die gesetzliche Einführung einer obligatorischen Elementarversicherung vor, die für alle Wohnungsbesitzer finanzierbar und auch ausreichend leistungsfähig ist. Als Beispiel nennt er die Schweiz, wo es eine doppelte Solidarität gibt: Dort müssen alle Hausbesitzer – unabhängig davon, ob ihr Wohnort in einem Risikogebiet liegt oder nicht – eine Elementarversicherung abschließen.
Sozialer Zusammenhalt
Zusätzlich bilden die privaten Versicherungsunternehmen einen Risikopool, aus dem Elementarschäden finanziert werden.
Vorsorgen will der Sozialverband auch bei den großen Unwägbarkeiten der Arbeitsmarktentwicklung. Niemand dürfe durch die neuen Anforderungen digital ausgestalteter Arbeitsplätze – wie es im Saarland mal hieß – „ins Bergfreie fallen“. Hier müssen durch passende Fort- und Weiterbildungsangebote präventiv Qualifikationen für neue berufliche Herausforderungen angeboten werden. Für Arbeitnehmer aus benachteiligten Bildungsschichten sei eine Nachqualifizierungsoffensive dringend nötig. Steigende Langzeitarbeitslosigkeit, Beschäftigungsängste angesichts der Veränderungen in der Automobilindustrie und gleichzeitig zunehmend beklagter Fachkräftemangel zeigten deutlich, dass Handlungsdruck bestehe.
Auch die Pandemievorsorge sei eine „neue soziale Frage“, betont Armin Lang. Für die durch die Pandemie sehr verängstigten Menschen sei es in Zukunft besonders wichtig, ihnen so vorsorgend zu helfen, dass sie weder chronisch noch mehrfach krank werden. Denn dadurch seien diese Menschen bei schweren Epidemien besonders gefährdet, wie die hohe Krankheits- und Sterberate in den letzten Monaten zeige. Mehr Gesundheitskompetenz für benachteiligte Menschen sei das Gebot der Stunde. Ziel müsse sein, dass in jeder Stadt und in jedem Landkreis eine stetige Gesundheitsvorsorge für besonders gefährdete Risikogruppen sicherstellt wird.
„Es darf nie mehr passieren, dass der beste Schutz vor einer schweren Erkrankung persönlicher Reichtum, gutes Wohnen und sichere Arbeit ist und das größte Risiko, schwer zu erkranken persönliche Armut, beengtes Wohnen sowie risikoreiche Arbeit!“, sagt Lang.