Stilbildend auf der einen Seite – stillos auf der anderen. Die ersten Wochen nach der Bundestagswahl haben ganz ungewohnte Blicke auf den Berliner Politikbetrieb eröffnet. Mit Koalitionsverhandlungen auf der einen und Aufräumarbeiten auf der anderen Seite ist wieder harter Politikalltag angesagt.
Die Termine stehen, die Zeitpläne sind ehrgeizig. Olaf Scholz soll jedenfalls vor Weihnachten seinen Amtseid als Bundeskanzler ablegen und Chef der ersten Ampel-Koalition auf Bundesebene werden.
Davor liegen noch harte Verhandlungswochen. Die großen Knackpunkte sind hinlänglich aufgelistet. Einerseits stehen die Verhandler unter Einigungsdruck, schließlich gibt es nach Lage der Dinge keine Alternative zur Ampel. Dafür hat sich die Union in gnadenloser Konsequenz selbst aus dem Rennen genommen. Andererseits scheint es den meisten durchaus ein gewisses Maß an Freude zu machen, aus den neuen Farben so etwas wie ein ansehnliches Bild zu mischen. Streit und Rückschläge sind bei diesem Experiment vorprogrammiert und unvermeidlich.
Entscheidend ist, ob die anfänglich vertrauensbildende Grundstimmung der Vorsondierungen trägt, um am Ende ein Regierungskonzept mit Substanz zu formulieren. Dass Formelkompromisse in Detailfragen nicht ausreichen, ist allen hinlänglich klar. Auch wenn die „Ampel" zuvor nicht gerade die über alles bevorzugte Wunschkonstellation war, sind die Erwartungen inzwischen doch ziemlich gewachsen.
Disziplinierte Kommunikation
Medienkollegen im Ausland haben die Entwicklungen mit wachem Auge beobachtet. Ein Regierungswechsel in der größten Volkswirtschaft der Europäischen Union ist nun mal kein alltäglicher Vorgang. Und dieser erst recht nicht. Deutschland ohne Angela Merkel ist gewöhnungsbedürftig, eine Ampel-Koalition erst recht.
Wie die ersten Wochen nach der Wahl abgelaufen sind, hat nicht nur hierzulande überrascht. Den meisten ist noch das Gewürge von vor vier Jahren präsent. Jetzt war in ausländischen Kommentaren schon mal ein kollegial-mitleidender Ton zu lesen. Über was sollten wir Medien in Deutschland schon berichten, wenn sich die möglichen künftigen Koalitionäre so diszipliniert an die vereinbarte Vertraulichkeit ihrer Kennenlerngespräche hielten und sich konsequent auf zwei, drei verabredete Formulierungen beschränkten?
Alleine schon das wurde von den Beteiligten, insbesondere von grüner und von liberaler Seite, als neuer Stil für einen politischen Neuanfang vermittelt. Es war nicht nur äußerst geschickt inszeniert, es traf vor allem den Nerv einer nach fast zwei Jahren Pandemie doch ziemlich entnervten Bevölkerung.
Auf der anderen Seite hat nicht wirklich verwundert, wie wenig Stilbildendes bei den Wahlverlierern vonstattenging. Vor allem die Art der Niederlage hat die gesamte Union in einen Zustand gebracht, der derzeit noch schwer zu fassen ist. Da sind alle Versäumnisse und Defizite der Vergangenheit auf dem Tisch, alte, nie wirklich beendete Machtkämpfe von Alphatieren der älteren Generation wieder eröffnet.
Alte Versäumnisse, Machtkämpfe und die Frauenfrage
Dazu beharrt die jüngere Generation darauf, die Fragen zu stellen, die bislang keiner wirklich hören wollte – und darauf, sich selbst darum zu kümmern, den Machtkampf um den Generationenwechsel aufzunehmen, der einhergehen soll mit der Lösung anderer Unions-Defizite. Und da ist die Frauenfrage nur eine, wenn auch besonders augenfällige. Dass derartige Kämpfe selten stilbildenden Charakter haben, liegt fast schon in der Natur der Sache.
Einzig die überraschenden Rückzüge von Annegret Kramp-Karrenbauer und Peter Altmaier sorgten kurzfristig für respektvolle Anerkennung, auch über die Parteigrenzen hinweg. Er war das unübersehbare Signal, um was es jetzt für die Union wirklich geht und was es heißt, wenn man das wirklich ernst nimmt. Das hat den Druck auf den etwas kopflosen Haufen in Berlin drastisch erhöht, aber noch keine erkennbaren weiteren Konsequenzen gezeigt. Was alleine schon die Größe der Herausforderung für die machtverwöhnte Union skizziert.
Der November wird für alle ein arbeitsreicher und nervenaufreibender Monat. Für die einen bei dem Bemühen, aus oft widerstrebenden Grundverständnissen eine gemeinsame Regierungspolitik zu formulieren, für die anderen im Bemühen, zunächst zu verhindern, dass der Laden erstmal nicht gänzlich kollabiert, und dann Wege zu finden, wie eine Neuaufstellung personell und inhaltlich organisiert werden kann.
Damit fängt der härtere Teil der Arbeit an. Die Perspektive, vor Weihnachten Ergebnisse zu liefern, ist ehrgeizig, aber nicht unrealistisch. Ein paar auch in dieser Hinsicht ruhigere Feiertage sind jedenfalls ein lohnendes Ziel.