Früher wurde der Morvan wegen seiner dichten Wälder auch als „Montagne Noire", als „Schwarzes Gebirge", bezeichnet. Die Region im Burgund wartet mit kulturellen Schätzen, reichlich Geschichte und viel Natur auf.
Ein leichter Wind kräuselt das Wasser, und die Herbstsonne taucht den Mischwald an den Ufern des Lac de Settons in warmes Licht. Ein paar Tretboote dümpeln auf dem Wasser, auf dem Uferpfad begegnet man vereinzelt Joggern und Radfahrern. Da es auf Mittag zugeht, sind die Picknicktische aus rustikalen Holzbohlen bereits besetzt. Auch Marielle hat Sandwiches, Obst und eine Thermoskanne mit Tee aus ihrem Rucksack geholt. Schließlich hat die Mitarbeiterin des Parc naturel régional du Morvan heute schon eine geführte Wanderung am See entlang hinter sich. Hat Gästen über die Geschichte der Region und die Besonderheiten von Flora und Fauna erzählt, nicht ohne mit ihnen über die sogenannte Passerelle zu laufen, eine kilometerlange Holzbrücke am schmalen Seeende.
Gut 360 Hektar Fläche hat der Lac de Settons, nur einer von mehreren Stauseen im Morvan, die hier Mitte des 19. Jahrhunderts angelegt wurden. Wo heute Ausflugsboote, Ruderer und Stand-up-Paddler unterwegs sind, wurde früher der Wasserstand des Flüsschens Cure geregelt, um die Flößerei bis Paris zu vereinfachen. Denn im Morvan, dem kleinsten Gebirge Frankreichs mit Gipfeln bis zu 900 Metern, gab es reichlich von dem, was die ständig wachsende Metropole Paris im 18. und 19. Jahrhundert so dringend benötigte: Brennholz. Und so wurden Abertausende Baumstämme in den Seen gelagert, bis der Wasserstand zum Weitertransport reichte. Dann ging es über die Cure und die Yonne bis nach Clamecy.
Gipfel messen bis zu 900 Meter
Auf einem Felsplateau liegt das Städtchen mit seien heute etwa 3.600 Einwohnern, oberhalb des Flusses Yonne, in die hier der Beuvron mündet. Diese günstige Lage machte die Stadt ab dem 16. Jahrhundert zur Drehscheibe für die Flößerei. Die im Morvan abgeholzten Baumstämme wurden in Clamecy in riesigen Auffangbecken gelagert, dann aus dem Wasser gefischt und sortiert. Und schließlich wieder, wenn der Wasserstand dafür ausreichte, zu enormen Flößen zusammengebunden, die eine Länge von 70 Metern erreichen konnten und nach Paris geschifft wurden.
Dass Clamecy dem Handel und dem Verschiffen des Holzes einigen Wohlstand verdankte, erkennt man bei einem Spaziergang durch die Altstadt. Roland Lemoine führt Besuchergruppen gern durch die verwinkelten Gassen mit teilweise aufwendig verzierten Fachwerkhäusern wie dem Maison du Tisserand aus dem 15. Jahrhundert. Vorbei an palaisartigen Bürgerhäusern und hin zur spätgotischen Stiftskirche St. Martin, deren 55 Meter hoher Turm schon von Weitem zu erkennen ist. Ein beeindruckender Kirchenbau mit reichverzierter Fassade im sogenannten Flamboyant-Stil – dargestellt sind in aufwendiger Steinmetzarbeit insgesamt 32 Szenen aus dem Leben des heiligen Martin.
Aber Clamecy hat noch mehr Sehenswertes zu bieten und so lotst Roland Lemoine von der „Societé Scientifique und Artistique" Besucher weiter durch die Gassen der Altstadt bis zum Musée de Clamecy. Das ist in drei nebeneinanderliegenden und miteinander verbundenen Gebäuden untergebracht – darunter das frühere Palais des Herzogs von Bellegarde sowie das Geburtshaus des Schriftstellers und Pazifisten Romain Rolland, der 1915 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Natürlich ist ihm im Museum ein Bereich gewidmet, mit Mobiliar aus seinem Geburtshaus, mit Büchern, Manuskripten, Fotoaufnahmen.
Ein weiß leuchtender Bau sticht heraus
Einen weiteren wichtigen Raum im Museum nimmt die Geschichte der Flößerei ein. In einem schummrig wirkenden Saal laufen Besucher über Holzbohlen, die das Gefühl vermitteln, als befinde man sich selbst auf einem schwankenden Floß. Und die gewölbte Holzdecke erinnert nicht von ungefähr an den Rumpf eines großen Boots. In den Vitrinen finden sich alte Werkzeuge und Ausrüstungsgegenstände der Flößer: Laternen, metallene Henkeleimer für das mitgebrachte Essen, aber auch die Haken, mit denen die Baumstämme an Land gezogen wurden, um sie hier nach Größe und Qualität sortieren zu können. Ein eindrucksvoller Blick in ein ausgestorbenes Metier, das früher das Überleben vieler Menschen in der Region sicherte und heute regelmäßig mit Flößerfesten gefeiert wird. Hinaus geht es aus Clamecys Museum und wieder auf den Weg durch den Parc naturel régional du Morvan. Waldgebiete wechseln mit Weiden, auf denen Rinder oder Schafe grasen, immer wieder passiert man Dörfchen, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Eines dieser verträumten Örtchen ist Alligny-en-Morvan. Rund um die Kirche St.-Hilaire aus dem 15. Jahrhundert gruppieren sich alte Häuser mit schiefer- oder ziegelgedeckten Dächern, mit bunt eingefassten Fenstern als Farbtupfer auf den grauen oder sandfarbenen Fassaden. Ein Gebäude jedoch fällt aus dem Rahmen: ein weiß leuchtender Bau mit großen Fenstern zur Straße hin und einem holzverkleideten modernen Eingangsbereich – das Musée des Nourrices.
Es gehört zu einer ganzen Gruppe von kleinen Museen, die der Parc naturel régional du Morvan gemeinsam mit verschiedenen Gemeinden in dem Gebiet betreibt und den Besuchern unterschiedliche kulturelle mit dem Morvan eng verknüpfte Themen näherbringen sollen. In Alligny-en-Morvan geht es vor allem um die Ammen, die man neben den gewaltigen Holzmengen als zweiten wichtigen „Exportartikel" der Region im 19. Jahrhundert bezeichnen könnte.
Wie viele junge Frauen genau ihre Heimat verließen, um in wohlhabenden Pariser Familien die Kinder großzuziehen, das wisse man nicht
ganz genau, sagt Elise Allyot vom Museum. Aber man schätzt, dass mindestens jede fünfte Frau ihren Lebensunterhalt als Amme in Paris verdient habe. Elise Allyot zeigt auf ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem fünf untergehakte Frauen eine Dorfstraße entlanglaufen. Heute kaum vorstellbar, welchen Kulturschock die Frauen aus dem Morvan im pulsierenden Paris des 19. Jahrhunderts wohl erlebten, wenn dort Tradition und Moderne aufeinandertrafen. Manch eine der nach Paris Gegangenen beschloss, gar nicht mehr in die Heimat zurückzukehren, andere kamen enttäuscht, manchmal auch um ihren Lohn betrogen, wieder zurück. Von all dem erzählt die Ausstellung im Musée des Nourrices einfühlsam, in mehreren kleinen „Häusern", die in die Struktur des alten Gebäudes eingebaut worden sind.
Da gibt es Briefe und Fotos, Tondokumente, alte Kinderwagen und Kleidungsstücke – und viele Hintergrundinformationen. Etwa zu einem weiteren „Wirtschaftszweig" im Morvan – nämlich den hier zu Tausenden untergebrachten Pflegekindern. Bis in die 1960er-Jahre hinein wurden Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen von der Fürsorge zu Pflegefamilien im Morvan gegeben. Das Team des Museums hat einige der früheren Pflegekinder interviewt, ihre Erlebnisse und Erfahrungen gehören zu den berührendsten Aufnahmen, die man sich hier anhören kann. Kontrastprogramm beim Verlassen des Museums: Ein kleiner Markt mit regionalen Produzenten ist mittlerweile auf dem Dorfplatz aufgebaut worden. Zwischen Apfelsaft, Teigtaschen mit Schneckenragout und dem Bier aus einer lokalen Brauerei wird das Neueste aus der Umgebung diskutiert.
Eine Anlage wie aus dem Bilderbuch
Zeit für einen Abstecher zum Château de Bazoches, einer Anlage wie aus dem Bilderbuch, die am Rand eines Wäldchens hoch über einem Dorf thront. Das Schloss war die Heimat Marschall Vaubans, der unter Ludwig XIV. als Bauherr zahlreicher Befestigungsanlagen berühmt wurde, die heute zum Unesco-Welterbe gehören, wie die Festungen von Neuf-Brisach oder Besançon. Bei einer geführten Tour durchs Schloss geht es durch die ehemaligen Wohnräume Vaubans und seiner Frau, durch mehrere Salons und bis zu einer Galerie, in der Ingenieure und Zeichner arbeiteten. Und von dem ausgedehnten Garten des Schlosses bietet sich ein fantastischer Blick über die Ausläufer des Morvans bis hinüber nach Vézelay mit seiner Basilika und über die angrenzenden Weinberge.
Der Wein, ganz klar, gehört zum Burgund wie die typische Küche, die man oft unverfälschter in Gasthöfen in kleinen Dörfern als in den touristischeren Orten kennenlernen kann. Das Bœuf bourguignon und die Weinbergschnecken findet man wohl auf fast jeder Speisekarte, ebenso wie Œufs en meurette – pochierte Eier in einer würzigen Rotweinsauce. Gestärkt kann nun die Tour rund um den Morvan, der wegen seiner dichten Wälder auch als „Montagne Noire" bezeichnet wird, fortgesetzt werden.
Unser letzter Stopp ist Autun, das 10 v. Chr. von Kaiser Augustus als Augustodunum an der Handelsstraße Via Agrippa gegründet und nach römischem Modell aufgebaut wurde. Mit einer sechs Kilometer langen Stadtmauer und zahlreichen Wehrtürmen, mit Tempeln und einem gewaltigen Amphitheater. Vieles davon kann heute noch besichtigt werden – das Halbrund des Amphitheaters ebenso wie zwei antike Stadttore. Und im Musée Rolin, das im ehemaligen Palais des Kanzlers Nicolas Rolin residiert, lassen Ausgrabungsfunde ahnen, welch bedeutende Stadt Augustodunum im römischen Reich gewesen sein muss.
Aber auch im Mittelalter spielte Autun als zeitweiliger Sitz der Herzöge von Burgund eine wichtige Rolle – die Kathedrale St. Lazare aus dem 12. Jahrhundert ist eindrucksvoller Beweis. Berühmt ist das Tympanon über dem Westportal, ein Relief aus 29 Blöcken, das das „Jüngste Gericht" in feinster Steinmetzarbeit facettenreich darstellt. Genauso meisterhaft sind die Kapitelle im Kirchenschiff, die auf kleinstem Raum plastisch und dynamisch Szenen aus dem Alten und Neuen Testament zeigen. Vom Mittelalter zurück in die Zeit der Römer – ein kurzer Spaziergang führt aus der Stadt zur Ruine des sogenannten Janustempels aus dem 1. Jahrhundert. Ursprünglich hatte der eine Höhe von 24 Metern mit mehr als zwei Meter dicken Mauern. Gerade am frühen Abend wirkt das 2.000 Jahre alte Gebäude sehr beeindruckend, wenn das Licht der untergehenden Sonne die Ruine in fast goldenes Licht taucht.