Was würde passieren, wenn wir nur noch das Nötigste kaufen würden? Der Umweltjournalist J. B. MacKinnon ist dieser Frage nachgegangen. Sein Gedankenexperiment wurde durch die Corona-Krise plötzlich Realität. Es zeigt, wie eine andere Konsumkultur zum Klimaschutz beitragen kann.
Einkaufen ist eine patriotische Aufgabe", verkündete Wirtschaftsminister Peter Altmaier im November 2020. Schließlich hatte die Corona-Pandemie Wirtschaft und Einzelhandel stark getroffen. Und als im Sommer die Corona-Regeln gelockert wurden, konnten es in der Tat viele Deutsche kaum erwarten, endlich wieder durch die Innenstädte zu bummeln, vor Ort einzukaufen statt nur online.
Wir shoppen aus Freude, wir shoppen aus Frust und neuerdings schwappt aus den USA sogar das „Revenge Shopping" zu uns. Darunter versteht man den Trend unter Verbrauchern, die verpassten Konsummöglichkeiten während der Pandemie jetzt auf Teufel komm raus aufholen zu müssen. Für viele von uns ist Shopping sogar Therapie oder eine Art Existenzberechtigung. Was aber würde passieren, wenn wir alle unseren Konsum drastisch einschränken würden? Wenn wir nur noch das einkauften, was wir wirklich benötigen?
Der kanadische Umweltjournalist J. B. MacKinnon beschloss, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Er sprach mit Wirtschaftsexperten, Konsumforschern und Sozialwissenschaftlern. Und verbrachte ausgiebig Zeit mit Menschen, die ihren Konsum schon lange drastisch reduziert haben, aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Als das Buch fast fertig war, kam Corona. Und aus dem Gedankenexperiment wurde Wirklichkeit, da es in weiten Teilen der Welt tatsächlich nur noch erlaubt war, das Nötigste einzukaufen. „Für mich als Autor war Corona eine Art glücklicher Zufall. Denn er half mir zu sehen, wie sich die von mir im Buch aufgestellten Thesen über den Effekt von radikalem Konsumverzicht in der realen Welt tatsächlich auswirken würden", berichtet MacKinnon im Interview.
In den ersten Monaten des globalen Lockdowns gingen die Kohlendioxid-emissionen drastisch zurück. Das war für MacKinnon nicht wirklich überraschend – der unmittelbare Effekt auf die Natur allerdings schon: Plötzlich schwammen wieder Fische und Quallen in den ruhigen Kanälen von Venedig, Süßwasserdelfine planschten im sonst so schmutzigen Ganges, wilde Kaschmir-Ziegen eroberten das walisische Küstenstädtchen Llandudno.
MacKinnon ging bei seinem Gedankenexperiment zunächst von 25 Prozent weniger Konsum aus – vor Corona unvorstellbar. Doch in der Pandemie ging der Konsum in Europa im Schnitt um 30 Prozent zurück – und mit ihm sanken die CO2-Emissionen. Wenn auch nicht stark genug, um den Klimawandel zu stoppen: Die meisten Forscher gehen davon aus, dass wir die vom Menschen verursachten Kohlendioxidemissionen bis 2050 auf null herunterfahren müssen, um die Erderwärmung bei 1,5 Grad Celsius zu stoppen. Und doch schlägt MacKinnon erst einmal nur 25 Prozent weniger Shopping vor: Ihm ist klar, dass man den Konsum nicht von heute auf morgen komplett herunterfahren kann –
schließlich hängen viele Arbeitsplätze und somit Existenzen an der Warenproduktion und dem Warenverkehr. Das System umzustellen, braucht Zeit.
25 Prozent weniger Konsum wäre jedoch ein Anfang, so MacKinnon. Ein Verzicht, der den meisten Menschen in der westlichen Welt nicht wirklich wehtun würde – aber helfen könnte, unsere CO2-Emissionen auf das Niveau des Jahres 2003 zu drücken.
Jedes Jahr berechnet das Global Footprint Network den ökologischen Fußabdruck der Menschheit. 2021 fiel der Erdüberlastungstag auf den 29. Juli. Bis dahin hatte die Menschheit alle Ressourcen verbraucht, die bei einer nachhaltigen Nutzung für das ganze Jahr gereicht hätten. Derzeit verbraucht die Menschheit die Ressourcen von 1,74 Erden, in den Industrieländern liegt der Verbrauch sogar noch höher: Hätten alle Länder der Welt einen Ressourcenverbrauch wie Deutschland, würden wir drei Erden benötigen.
Würde der Rest der Welt hingegen so leben wie Ecuador, würden die Ressourcen unseres Planeten ausreichen. J. B. MacKinnon stellt seinen Lesern die Familie von Fernanda Paez vor: Sie wohnen in Ecuadors Hauptstadt Quito, Fernanda fährt Taxi, ihr Mann arbeitet bei einer Bank. Die Familie hat einen Computer im Haus, nur die Erwachsenen haben Handys, und die sind nicht nagelneu. „Ihr Lebensstil ähnelt dem in reicheren Ländern, nur hat man den Eindruck, er sei beim Waschen eingelaufen", beschreibt MacKinnon seine Eindrücke. Fernanda und ihre Familie scheinen mit ihrem Lebensstandard zufrieden, sie sehen sich keineswegs als arm.
Was würde passieren, wenn man weltweit die Wirtschaft auf das Niveau Ecuadors herunterfahren würde? Ist eine Alternative zum ständigen Wachstum möglich?
Als einer der wichtigsten Wohlstandsindikatoren gilt seit den 50er-Jahren das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also der Gesamtwert aller Güter, Waren und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft innerhalb eines Jahres. Je höher das BIP pro Kopf, umso höher der Wohlstand einer Region oder eines Staates, so das allgemeine Credo. Ein wachsendes BIP gilt als gut, ein schrumpfendes als schlecht. Es gibt jedoch auch Forscher, die daran ihre Zweifel haben. Der kanadische Ökonom Peter Victor beispielsweise hat für sein Land in einer Computersimulation durchgespielt, welche Folgen ein verringerter Konsum hätte. Obwohl Victor im Modell das BIP-Wachstum schrittweise auf null reduzierte, blieb der wirtschaftliche Zusammenbruch aus. Insgesamt stieg der Wohlstand der einzelnen Haushalte weiter, wenn auch langsamer als mit einem steigenden BIP.
Auch die Modeindustrie ist gefordert den Ressourcenverbrauch zu reduzieren. Im Buch kommt Abdullah al Maher zu Wort. Er ist Geschäftsführer einer Textilfirma in Bangladesch, die unter anderem für H&M und Zara produziert. Zwei Unternehmen, die Fast Fashion anbieten, also schnelllebige, günstige Mode statt Kleidung, die man über Jahre oder gar Jahrzehnte trägt. Weniger Konsum wäre zunächst ein harter Einschnitt für sein Land, gibt al Maher zu, langfristig könnte das neue System aber zu höherer Qualität, besseren Löhnen und geringerer Umweltverschmutzung führen.
Nach der Pandemie könnte ein Reboundeffekt eintreten
Dass ein Geschäftsmodell konträr zur Fast Fashion ein umweltfreundlicher und profitabler Weg sein kann, bemerkte man in der Corona-Krise beim Jeanshersteller Levi’s. Dort will man jetzt die Kunden dazu bewegen, weniger Produkte zu kaufen, die von besserer Qualität sind. Und vielleicht beginnen wir in der Pandemie auch, lang gehegte Verhaltensweisen in Bezug auf Kleidung zu überdenken. Etwa die verschwenderische Manie, sich mit jedem Modetrend eine neue Garderobe zuzulegen oder beim Kleidungskauf nach dem Motto vorzugehen „Mehr ist besser": MacKinnon berichtet von einem New Yorker Manager in der Unterhaltungsindustrie, der unglaubliche 210 Hemden besaß. In einer Art Selbstversuch trug er während der Pandemie 70 Tage in Folge in seinen Home-Office-Videokonferenzen immer dasselbe Hemd. Und zu seiner großen Überraschung ist sein vermeintlicher Fashion-Fauxpas niemandem aufgefallen, auch weil viele seiner Kollegen ebenfalls nur ein „Zoom-Hemd" hatten, das ihren Bedarf völlig deckte.
Einkaufen macht glücklich – zumindest für eine Weile. MacKinnon geht in seinem Buch auch der Frage nach, wie es eigentlich dazu kam, dass so viele von uns glauben, Konsum verschaffe bleibende Zufriedenheit oder gar Glück. Und entdeckt beispielsweise, dass eine größere Einkommensungleichheit – wie sie zum Beispiel in den USA herrscht – die Leute anregt, mehr zu kaufen, damit sie das Gefühl haben, sie können mit dem Lebensstil ihrer Nachbarn und Kollegen mithalten.
Die Krise hat mehr Interessantes hervorgebracht: Menschen, die während der Pandemie weniger gearbeitet haben, haben auch weniger konsumiert, erzählt Elisabeth Dütschke vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe: „Indem man sein Einkommen verringert, kann man seinen Konsum verringern." Dütschke ging mit gutem Beispiel voran, indem sie ihre Arbeitszeit am Institut freiwillig reduzierte.
Andererseits befürchtet Dütschke nach der Pandemie den sogenannten Reboundeffekt: Der greift, wenn Menschen, die während der Pandemie lieber Campingurlaub in Deutschland gemacht haben, glauben, dadurch das moralische Recht erworben zu haben, nach der Pandemie wieder öfter Flugreisen machen zu dürfen. Am Ende haben sie keinerlei positiven ökologischen Effekt erzielt oder haben der Umwelt sogar geschadet.
MacKinnon merkt bei seinen Recherchen aber auch: Viele Menschen kommen mit dem Nötigsten aus – weil sie es wollen, weil sie es nicht anders kennen oder weil sie keine andere Wahl haben.
Etwa die Einwohner der Insel Sado an der Nordwestküste Japans. Früher wurde hier Gold abgebaut, was Wohlstand brachte und Arbeitskräfte anlockte. Heute ist die Wirtschaftskraft halbiert, die Bevölkerungszahl ebenso, die Gesellschaft ist überaltert. Sados Einwohner haben im Gegensatz zu ihrer Regierung in Tokio jedoch akzeptiert, dass das Ende des Wachstums gekommen ist.
Die Inselbewohner haben sich ein neues Wirtschaftssystem aufgebaut, mit vielen Kleinbetrieben und agrarischer Selbstversorgung. Eine Bewohnerin beschreibt das so: „Hier auf Sado gibt es nichts. Du musst es selbst schaffen. Nicht das Konsumieren macht dir Freude, sondern das Erschaffen von etwas." Die meisten Menschen auf Sado verdienen weniger und kaufen weniger als früher – und haben dennoch nicht das Gefühl, das ihnen etwas fehlt.
Das Handeln jedes Einzelnen hat globale Konsequenzen
Mit wenig zufrieden ist auch eine Hausfrau aus Seattle, die MacKinnon besucht hat. Im Gegensatz zu den Bewohnern von Sado hat sie ihre Entscheidung gegen das ständige Mehr nicht aus der Not heraus getroffen. Sie nennt das „Vereinfachung". Ihr gesamter Besitz passt in einen Koffer und ein paar Schachteln. Und sie ist überzeugt, dass sie mit noch weniger auskommen könnte. MacKinnon will die Rettung des Planeten nicht allein auf den Einzelnen abwälzen. Um den Klimawandel zu bremsen, braucht es seiner Meinung nach eine globale Energie- und Verkehrswende, die von der Politik durchgesetzt werden muss. Der Kanadier macht aber deutlich, welche Macht von unserem Verhalten als Verbraucher ausgeht. „Wenn wir unseren Konsum reduzieren, haben es gleichzeitig grüne Technologien einfacher, die Lücke zu schließen, um unseren CO2-Ausstoß auf null zu reduzieren."
Um Verbrauchern ihre Macht vor Augen zu führen, berichtet MacKinnon von einer Glühbirne in einem Feuerwehrhaus im kalifornischen Ort Livermore, die seit 120 Jahren brennt – ununterbrochen. Die Glühbirne erinnert uns daran, dass heute weltweit Konsumgüter produziert werden, die eine immer geringere Lebensdauer haben. Wer hat noch nicht über ein Gerät geflucht, das noch nicht einmal ein Jahr nach dem Kauf kaputtging? MacKinnon sieht hier eine Mitschuld des Konsumenten. Denn wir lassen uns durch niedrige Preise verlocken, solche Konsumgüter einfach kontinuierlich zu ersetzen. „Wahrscheinlich haben wir diesen Trend auch mitverursacht, weil wir Qualität nicht genug Wertschätzung entgegengebracht haben. Vielleicht haben wir hier auch den Punkt verpasst, zu rebellieren."
Als Warnung geht MacKinnon auf Industriezweige ein, denen es weltweit gelang, uns Konsumenten systematisch zu manipulieren: So habe es die amerikanische Klimaanlagen-Branche geschafft, fast einer ganzen Nation weiszumachen, dass Klimaanlagen notwendig sind, um in Innenräumen jene Temperaturen zu garantieren, bei denen sich Menschen weltweit angeblich am wohlsten fühlen. Mit Folgen nicht nur für den Geldbeutel der Mieter und Hausbesitzer, sondern auch für die Umwelt: Eine Abkehr von dieser willkürlich gewählten Wohlfühltemperatur, die die Klimaanlagenbauer für US-amerikanische Wohnhäuser von Kalifornien bis New York etabliert haben, würde Millionen Tonnen von CO2 sparen.
Schaffen wir den Wandel in unserem Konsumverhalten? MacKinnon sieht diese Chance – nicht zuletzt wegen der Corona-Pandemie. In der Krise habe man gemerkt, dass das Handeln jedes Einzelnen globale Konsequenzen hat. Jetzt komme es darauf an, aus dieser Erkenntnis die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Bloß – wo anfangen? In Nordamerika ist MacKinnons Buch bereits vor einigen Monaten erschienen. Eine Kritikerin schrieb damals mit spitzer Feder: Kauft das Buch – und hört danach mit dem Kaufen auf.