Wer nach der Abgeordnetenhauswahl in Berlin auf einen Neuanfang gehofft hat, wird enttäuscht sein. Vieles schleppt sich weiter, die unselige Bürokratie in der Verwaltung wird kaum angetastet, und Franziska Giffey wirkt jetzt schon wie eine alte Bekannte.
Weiter wie bisher? Die Koalitionspartner sind die gleichen wie vor der Wahl. Statt Rot-Rot-Grün, jetzt eben Rot-Grün-Rot. Und keine Ampel. Franziska Giffey musste sich der Mehrheit der SPD-Mitglieder in Berlin beugen und ihren Annäherungsversuch an die FDP aufgeben. Jetzt hat sie die beiden Parteien am Tisch sitzen, die sie vor der Wahl noch bekämpft hatte – die Linken mit ihrem Festhalten am Volksentscheid zur Enteignung der großen Wohnungsunternehmen und die Grünen mit ihren radikalen verkehrspolitischen Vorstellungen wie einer City-Maut oder dem Stopp des Baus der A 100. Nach Aufbruch und Neuanfang sieht das nicht aus. Weiter also, aber nicht so.
Baustellen gibt es zur Genüge. Das Radwegenetz ist in den vergangenen Legislaturperioden nicht vorangekommen, die Schulen sind nach wie vor in einem desolaten Zustand, zu viele Lehrer verlassen Berlin, zu viele Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung stopfen die Lücken, die Verwaltung ist handlungsunfähig und chronisch unterbesetzt, wie der soziale Wohnungsmarkt in dieser Stadt organisiert und reglementiert werden soll, ist nicht gelöst, der Mietendeckel ist gekippt und die Clan-Kriminalität ist weiterhin ein Problem. Wie hieß es bei der FDP? Nie gab es mehr zu tun.
Nachdem am 15. Oktober SPD, Grüne und Die Linke das Ergebnis ihrer Sondierungen vorgelegt hatten, begannen die eigentlichen Koalitionsverhandlungen. Seit drei Wochen tagen also 16 Facharbeitsgruppen mit je acht Vertretern ihrer Parteien. Sie haben sich zu ganz unterschiedlichen Themen gebildet: Finanzen, Gesundheit, innere Sicherheit, Wissenschaft, Verwaltung, und sie sollen gemeinsame Lösungen finden.
Strittige Fragen wurden vertagt
Das sechsseitige Sondierungspapier hat dabei schon einige „Leitlinien" vorgegeben. Zum Thema Wohnen wird ein Bündnis aus städtischen Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaften und privaten Wohnungsunternehmen gegründet. Es soll vor allem für bezahlbare Mieten sorgen. Während die SPD die Vergesellschaftung der großen privaten Wohnungsbestände ablehnt, ist die Linke dafür, mit Einschränkungen auch die Grünen. Zur Erinnerung: Am 26. September stimmten 56,4 Prozent der Berliner für die Enteignung. Und was tut man, wenn man sich nicht einig ist? Man setzt eine Kommission ein. Sie soll „die Möglichkeiten zur Umsetzung prüfen". Also: vertagt. Ebenso der zweite Bauabschnitt der A 100: Der 16. wird gebaut, der 17. erst einmal nicht.
Weiter so? Der Senat war immer schon sehr gut darin, strittige Fragen vorerst zu vertagen und einmal gesetzte Termine zu verschieben.
Zur Gewinnung von Lehrpersonal werden alle Möglichkeiten eingesetzt, auch die Verbeamtung. Es wird mehr Polizei, mehr Videoüberwachung und mehr Staatsanwälte geben. Und unter „gute Verwaltung" verspricht der künftige Senat, dass Bürger innerhalb von 14 Tagen einen Termin beim Bürgeramt bekommen können. Das ist zumindest blauäugig, wenn man bedenkt, dass es heute bis zu einem Jahr dauern kann, sich einen neuen Personalausweis ausstellen zu lassen, und drei Monate, ein neugeborenes Kind anzumelden. Nicht unerwähnt bleibt dabei, dass es dazu eine bessere Personalausstattung braucht und natürlich die Digitalisierung.
Wenn Giffey sagt, dass die Stadt wieder funktionieren müsse, dann hat sie es bisher zu wenig oder nicht getan. „Es ist entscheidend, wie wir mit über 140.000 Angestellten unseren Job machen." Die Verwaltung müsse wieder dienstleistungsorientiert und bürgernah arbeiten. Wie das gehen soll, wenn demnächst 40 Prozent der Angestellten und Beamten in den Ruhestand gehen, wird der Fachausschuss klären müssen.
Die Fachgruppen tagen vertraulich, ihre Termine sind nicht bekannt, sie organisieren ihre Treffen selbst. Wagt sich jemand wie Bettina Jarasch mit ihrer City-Tax-Idee (einem verpflichtenden BVG-Ticket für alle Touristen) hervor, wird er oder sie von der FDP und der IHK schnell abgestraft („grob fahrlässig"). Die Enteignungsinitiative hat bereits angekündigt, die Koalitionsverhandlungen aufmerksam zu begleiten und sich weiter gegen Formelkompromisse oder Verzögerungstaktiken zu wehren. Ein kleiner Parteitag der Linken verstärkte noch einmal den Druck: Die Delegierten stimmten Koalitionsverhandlungen nur zu, weil sie sonst wegen des Volksentscheids bereits am Start geplatzt wären.
Bürgerämter sollen effizienter werden
Die Ergebnisse der Fachgruppen werden am 8. November beziehungsweise am 12. November der sogenannten Dach-Gruppe vorgelegt, die aus Spitzenpolitikern von SPD, Grünen und Linken besteht. Dazu gehören die SPD-Landesvorsitzenden Franziska Giffey und Raed Saleh, die Fraktionsspitze der Grünen Bettina Jarasch, Antje Kapek und Silke Gebel sowie die Linke-Landesvorsitzenden Katina Schubert und Klaus Lederer, der bei der Abgeordnetenhauswahl als Spitzenkandidat angetreten war.
Sie entscheiden am Schluss darüber, was in den Koalitionsvertrag kommt: Ende November soll er fertig sein. Am 5. Dezember will die SPD auf einem Parteitag darüber abstimmen, am 12. Dezember die Grünen ebenfalls auf einem Parteitag. Die Linken wollen per Mitgliederentscheid und wohl auch einen Parteitag über den Koalitionsvertrag abstimmen lassen. Geplant ist, dass die neue Regierung am 21. Dezember gewählt wird. Nach der Wahl von Franziska Giffey zur Regierenden Bürgermeisterin von Berlin im Abgeordnetenhaus werden die Senatoren im Roten Rathaus von ihr ernannt und vereidigt. Und auch da geht es weiter wie bisher. Derzeit gibt es zehn Senatoren. Nach Wahlergebnis aufgeteilt, bekäme die SPD vier plus die Regierende, die Grünen ebenfalls vier. Blieben zwei für die Linke, was zwar dem Wahlergebnis (14,1 Prozent) entspräche, mit dem aber die Linke nicht zufrieden sein wird und wahrscheinlich mehr fordert. Gesetzt ist Klaus Lederer (Linke), der liebend gern seine Arbeit als Kultursenator fortsetzen wird. Alles deutet darauf hin, dass auch die Linke Sozialsenatorin Elke Breitenbach weitermachen will. Und das wichtige Amt des Bausenators wird die Linke ungern aus der Hand geben, zumal erst vor Kurzem Sebastian Scheel die unglückliche Katrin Lompscher, mit der nie die Zielmarke von 20.000 Wohnungen jährlich erreicht wurde, abgelöst hat. Die Grünen wollen den Posten der Verkehrssenatorin auch nach der Absage der bisherigen Senatorin Regine Günther (parteilos) behalten. Für die Grünen-Spitzenkandidatin Jarasch wird noch ein Ressort gesucht. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) wird dem neuen Senat nicht mehr angehören (was Eltern, Lehrer und Schüler zu Seufzern der Erleichterung veranlassen wird). Ob sich Andreas Geisel als Innensenator nach dem Wahlchaos bei den Bezirks- und Abgeordnetenhauswahlen halten wird, ist offen. Dilek Kalayci (Gesundheit) hört auf, Matthias Kollatz-Ahnen, der Finanzsenator, wird sein Schlüsselressort behalten. Also weiter so? Nicht ganz. Es wird ein paar neue Gesichter geben. Der Wohnungsbau könnte zulegen. Der Müll auf den Straßen und in den Parks wird nicht weniger. Die zwölf Bezirke werden sich weiter nur bedingt vom Senat mitregieren lassen. Aber von einem wirklichen Neustart, gar einem Aufbruch ist im Moment nichts zu spüren. Vielleicht wird im kommenden Frühjahr etwas daraus.