Haben wir etwas aus den vergangenen Monaten gelernt? Bei den Corona-Maßnahmen geht es schon wieder drunter und drüber. Entscheidend wird der Umgang mit Ungeimpften sein.
Alarmstufe Rot beim Robert Koch-Institut: Der Inzidenzwert war Ende Oktober bundesweit auf über 130 pro 100.000 Einwohner hochgeschnellt. Eine Woche vorher lag der Wert noch um die 70. Der Krankenhausverband warnt, spätestens Ende November könnten nun die Intensivstationen voll sein. Doch entgegen der zahlreichen Warnungen der Wissenschaft geschah – nichts. Die Corona-Maßnahmen wurden nicht verschärft und, für viele Eltern das Allerwichtigste: Die Kinder gehen weiter zur Schule. Zum Abschied aus Nordrhein-Westfalen hob Armin Laschet in seiner letzten Amtshandlung als Ministerpräsident die Maskenpflicht an den Schulen auf, so wie alle anderen Bundesländer zuvor. Bayern meldet in einigen Landkreisen mittlerweile Inzidenzwerte von 500 bis teils über 600, aber auch hier passierte nichts weiter. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder dachte lediglich über mögliche Maßnahmen öffentlich nach. Begründung für die plötzliche Corona-Coolness: Nicht mehr der Inzidenzwert, also Infizierte auf 100.000 Einwohner, ist jetzt das Maß aller Dinge, sondern die Hospitalisierungsinzidenz, also ein klassischer Dreisatz – die Infizierten auf 100.000 Einwohner und die Anzahl der davon stationär Behandelten.
Doch diesen Wert gibt es bekanntermaßen in dieser Form überhaupt nicht, wie Forum bereits in der letzten Woche berichtete. Berichte, wonach die entsprechende Zahl des Robert Koch-Instituts immer weniger belastbar sei, häufen sich. Der noch geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zeigte sich in dieser misslichen Situation dennoch zuversichtlich. Er rief Deutschland zum Boostern auf. „Deutschland hat genug Impfstoff, darum sollen sich jetzt alle ab 40 bei ihrem Arzt über eine dritte Auffrischungsimpfung informieren."
Spahns Kalkül geht nicht auf
Der 41-Jährige ging auch gleich voran und ließ sich medienwirksam in der Berliner Charité zum dritten Mal impfen. Die Ständige Impfkommission (Stiko) wurde auf diese Art und Weise gleich mal wieder düpiert, dort hatte man noch zwei Tage vorher die Empfehlung für eine dritte Impfung für Menschen ab 70 Jahren oder älter ausgegeben. Stattdessen der ministerielle „Booster für alle". Spahns Kalkül: Wenn die Deutschen dreimal geimpft sind, dann kriegen wir die Pandemie auch in diesem Winter in den Griff und die Krankenhäuser werden nicht an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen.
Auch dem Krankenhausverband erschließt sich der Booster-Ansatz des Gesundheitsministers nicht. Das Problem auf den Intensivstationen bundesweit seien nicht Impfdurchbrüche. Deren Krankheitsverlauf bedarf im Übrigen nur in den seltenen Fällen der Intensivmedizin. Das Problem seien Patienten, die nicht geimpft sind, also in der Mehrzahl absolute Impfverweigerer. Kopfschütteln auch bei den Virologen, die schon seit Wochen immer wieder darauf hinweisen, die Nichtgeimpften werden im kommenden Winter das Problem werden.
Das Umfrageinstitut Forsa hat hierzu in einer Umfrage 3.000 Nichtgeimpfte befragt. Zwei Drittel von ihnen gaben an, dies auf keinen Fall in den kommenden Monaten zu tun. Dabei interessierte die Befragten überhaupt nicht, ob die Kliniken nun überfüllt sind oder nicht. Auftraggeber dieser Studie war übrigens das Bundesgesundheitsministerium. Damit gibt es eine klare Problemlage: Nicht die Geimpften müssen geboostert werden. Wer nicht geimpft ist, muss von der Sinnhaftigkeit der Impfung überzeugt werden. Gesellschaftliche Nachteile drohen ohnehin. Gemeint ist die derzeit in vielen Bundesländern optionale 2G-Regelung, wonach nur noch Geimpfte und Genesene Zutritt zum Beispiel zu Restaurants bekommen. Das gehe zwar nicht in allen Lebensbereichen, aber im Theater, Kino, in der Kneipe oder beim Sport sei das umsetzbar, sind sich zumindest Mediziner wie Virologen sicher.
Dass Schnelltests seit Anfang Oktober nun aus der eigenen Tasche bezahlt werden, hat jedenfalls nicht zur nötigen Motivation zum Impfen geführt. Ganz abgesehen von der Qualität der Schnelltests bei ihrer Durchführung. Ein Beispiel aus einer Berliner Einkaufsstraße im Norden der Hauptstadt zeigt, worum es geht. „Die Leute wollen jetzt shoppen oder ins Restaurant und brauchen von mir dazu den negativen Schnelltest. Wenn der bei mir positiv ist, gehen sie um die Ecke und machen einen neuen, der dann negativ ist und ich sehe den Test-Kunden nie wieder", bringt es ein Schnelltest-Anbieter gegenüber Forum auf den Punkt. Übrigens auch ein Grund, warum man unter anderem im Robert Koch-Institut die Schnelltests mittlerweile noch kritischer sieht als schon zu Beginn und einige Fluggesellschaften diese nicht mehr anerkennen.
Überforderte Personaldecke
Doch um Tests geht es derzeit auch nicht wirklich, so der Virologe Alexander Kekulé aus Halle. „Die Impfquote muss hoch, auch wenn es keine Herdenimmunität geben kann. Diese hat sich erledigt. Aber der Krankheitsverlauf bei Geimpften ist wesentlich milder als der von Ungeimpften." Dabei verwendet der Virologe ein Wort, dass man aus dem Mund von Politikern schon lange nicht mehr hört: Herdenimmunität. Vor gut einem halben Jahr noch das Maß aller Dinge. Es sind diese teils unauflösbaren Widersprüche, die die Menschen verärgern, noch viel schlimmer, vor allem verunsichern.
Füllen sich die Intensivbetten wieder, sind erneut überforderte Personaldecken der Krankenhäuser ein entscheidender Punkt, an dem das Betreiben dieser Betten krankt. Der Krankenhausstreik in Berlin in diesem Spätsommer brachte unfreiwillig punktuell Licht ins Dunkel des personellen Zustands der deutschen Krankenhäuser. Die Arbeitgeber wollten die Gewerkschafter unter Druck setzen und warfen ihnen vor, mit ihrem Streik und den damit bedingten Notfallplänen die Patienten auf den Stationen zu gefährden. Daraufhin machten sich die Verdi-Vertreter die Mühe und verglichen die tatsächlich besetzten Schichten vor dem Streik mit ihren erbrachten Personalnotfallplänen während des Arbeitskampfes. In den meisten Fällen war kein personeller Unterschied zwischen Normal- und Notfallbetrieb festzustellen. Daraufhin beeilten sich die Arbeitgeber, auf die Forderungen der Gewerkschaft einzugehen und die Geschichte unter dem Deckel zu halten.
Das Verhalten eines mutierenden Virus ist nicht zu unterschätzen. Aber ganz offensichtlich personell völlig ausgezehrte Krankenhausstationen der nicht minder gefährliche zweite Faktor.