Als Lucky Luke am 14. November 1946 erstmals in einem Magazin aufgetaucht war, konnte niemand absehen, dass der einsame Cowboy zum berühmtesten und dienstältesten Comic-Western-Helden aller Zeiten aufsteigen würde. Seine in Alben verpackten Abenteuer haben sich weltweit mehr als 300 Millionen Mal verkauft.
Ein pausbäckiger, untersetzter Cowboy mit strammen Beinen, füllig-braunem Haar und nur über vier Finger verfügenden Händen, was das flinke Ziehen des Colts zu einem Zauberkunststück werden ließ – bei seinem ersten Magazin-Auftritt wirkte die Comic-Figur von Lucky Luke wie eine Karikatur des späteren Western-Helden. Auch wenn sein belgischer Erfinder Maurice de Bevere, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Morris, ihn schon mit den wesentlichen Accessoires ausstaffiert hatte. Zwar trug Luke noch keine schwarze Weste, sein gelbes Hemd war noch kariert und auch die schwarze Haartolle sollte erst später dazu kommen, aber die umgestülpten Blue Jeans, die Stiefel mit Sporen, das rote Halstuch und der weiße Stetson-Hut waren schon vorhanden.
Ebenso sein wichtigster Gefährte bei seinen abenteuerlichen Streifzügen durch die weiten Prärien des Wilden Westens: Jolly Jumper. Auch konnte der Apfelschimmel in der ersten Episode, die auf 20 Seiten unter dem Titel „Arizona 1880" im am 14. November 1946 erschienenen Jahresalmanach 1947 des Comic-Magazins „Spirou" veröffentlicht wurde, noch nicht sprechen, geschweige denn beherrschte er spätere Fähigkeiten wie auf Bäume klettern, zum Angeln gehen oder sich den Sattel selbstständig anzulegen. Trottelhund Rantanplan als ewiger Fährten-Verkehrtschnüffler oder Lukes Dauerrivalen, die dümmlichen Dalton-Gangster, waren noch nicht in Sicht. Das Konzept von Luky Luke wirkte anfangs ziemlich unfertig, „Arizona 1880" war kaum mehr als eine schwungvolle, vom Action getriebenen Zeichentrickfilm jener Tage inspirierte Banditen-Verfolgungsjagd. Dafür mit teils recht brutalen Sequenzen, die sich auch in dem ersten regulären, 1949 publizierten Lucky Luke-Album „Die Goldmine von Dick Digger" wiederfanden.
Schon in diesen ersten beiden Storys, die der deutsche Lizenznehmer Egmont Ehapa zur Feier des 75-jährigen Lucky Luke-Jubiläums im März 2021 als 100. Ausgabe in seiner Album-Edition unter dem Titel „Die Ursprünge – Western von Gestern" herausgebracht hatte, offenbarte sich der kleine Schwachpunkt von Morris. Er war eben nicht der große Texter und Erzähler, sondern er hatte seine Stärke im Zeichnen – wenngleich sich diese Stärke erst allmählich herauszubilden begann. Bei seinen Frühwerken machte sich noch deutlich seine stilistische Abhängigkeit vor allem von den Disney-Trickfilm-Produktionen bemerkbar. Der Strich war rund und fließend, in der Komposition der Hauptfiguren und des Hintergrundes war noch nichts vom späteren Minimalismus Richtung bloßem Scherenschnitt und farblicher Zurückhaltung zu erkennen. Morris selbst war nicht sonderlich stolz auf seine zeichnerischen Anfänge: „Ich hatte damals keinen Stil. Das war eine Art Mischung aus Hergé mit viel Walt Disney und einem Schuss Max Fleischer, denn Popeye hatte mich stark beeinflusst."
Sechsjähriges Studium in USA
Nicht weiter verwunderlich bei Morris’ Vorgeschichte. Hatte der 1923 in Kortrijk geborene Bürgersohn, der schon während seiner Schulzeit in einem Jesuitenkolleg durch pfiffige Lehrer-Karikaturen sein künstlerisches Talent offenbart und anschließend eine Zeichner-Ausbildung absolviert hatte, doch 1943 eine Anstellung bei einem belgischen Zeichentrickfilmstudio gefunden. Nach dessen Pleite wechselte er 1945 zum belgischen Comic-Verlag Editions Dupuis, der seit 1938 mit dem Magazin „Spirou" die wichtigste Plattform der franko-belgischen Comic-Welt etabliert hatte – und als solcher nicht nur Geburtshelfer von Lucky Luke, sondern auch der „Schlümpfe" werden sollte.
Belgien war damals neben den USA das globale Kreativzentrum der sogenannten Neunten Kunst. Morris hatte sich vor allem für Amerika und seine Western-Geschichte begeistert, seine persönliche Vorstellungswelt wurde aber auch generell von US-Filmen befeuert. Gemeinhin wird angenommen, dass er den Namen seines Helden von der 1917 gedrehten Stummfilmkomödie „Lonesome Luke" übernommen hat. Von dort soll auch der spätere klassische Abgesang jeder Geschichte entlehnt sein: „I’m a poor lonesome comboy and a long way from home", singt Lucky Luke nach erfolgreichem Abschluss eines neuen Abenteuers beim Ritt Richtung Sonnenuntergang, ein echter Cowboy-Song aus dem 19. Jahrhundert.
Ganz wesentlich für Morris Aufstieg zum „Michelangelo der Comic-Kunst", wie er bewundernd vom renommierten deutschen Comic-Künstler Ralf König getauft wurde, war sein sechsjähriger Studien- und Fortbildungsaufenthalt in den USA bis 1955. Während dieser Zeit perfektionierte er seinen Zeichenstil. Laut König sei es geradezu genial, „wenn Comics so schnell hingekritzelt sind oder zumindest so aussehen". Zudem eignete sich Morris auf seinen Reisen quer durch die USA einen riesigen Archivfundus über landschaftliche und natürliche Besonderheiten Amerikas sowie über geschichtliche Hintergründe der Pionierzeit an, um dieses Material in seine Werke einfließen lassen zu können. Und last but not least kam es in Übersee zum folgenreichen Treffen mit dem blutjungen René Goscinny, dessen geniale Texterfähigkeiten Morris nicht verborgen blieben. Weshalb er ihm schon einige Jahre vor Goscinnys „Asterix"-Liaison mit Albert Uderzo die Mitarbeit bei Lucky Luke als sogenannter Szenarist angeboten hatte.
Das Gespann Morris-Goscinny sollte denn auch zwischen 1955 und 1977 für die Meisterwerke unter den Lucky-Luke-Episoden verantwortlich zeichnen. Der Witz dieser Klassiker schöpfte sich aus den Szenenfolgen, die Goscinny sich ausgedacht hatte und die Morris anschließend mit lebendigen Strichen zum Leben erweckte. Der pausbäckige Held wurde in einen Schlacks verwandelt, der in einer ewigen Western-Parodie als Einzelgänger ohne jegliche Leidenschaften dank Intelligenz, Bescheidenheit, Aufrichtigkeit und Toleranz unermüdlich für Recht und Gerechtigkeit eintritt, weil es um ihn herum eigentlich von Bösen und Gesetzesbrechern nur so wimmelt.
Seit 1958 auch in Deutschland
Immer bleibt Lucky Luke der Sieger, weil er – inzwischen mit fünf Fingern ausgestattet – den Colt schneller ziehen kann als sein Schatten, ohne dabei mit Blick auf das breite Lesepublikum von Jung bis Alt ein tödliches Blei abzufeuern. „Lonesome, einsam ist dieser Cowboy nicht, weil er es unter Menschen nicht aushält", so die „Frankfurter Rundschau", „sondern weil er der einzige Zivilisierte in Morris’ Vision vom Wilden Westen ist." Nach Goscinnys Tod 1977 setzte Morris die Serie mit wechselnden Textern fort. Als Morris selbst nach insgesamt 70 von ihm realisierten Lucky-Luke-Alben 2001 zu Grabe getragen wurde, hatte er schon im Vorfeld den französischen Comiczeichner Hervé Darmenton alias Achdé zu seinem Nachfolger erkoren, der grafisch ganz dem Stil von Morris treu ist.
Unter den wechselnden Textern hat sich in den vergangenen Jahren der Franzose Julien Luien Berjeaut alias Jul als feste Größe etabliert, der im 2020 erschienen 99. Egmont-Album „Fackeln im Baumwollfeld" erstmals einen schwarzen Cowboy auftreten ließ und dadurch die Serie in Richtung Diversität erweitert hat. Das Rauchen, eines der wenigen Laster, dem Lucky Luke gefrönt hatte, war ihm 1983 im Album „Fingers" aus Rücksicht auf jugendliche Leser ausgetrieben worden. Seitdem muss er sich mit einem Grashalm im Mund begnügen.
Inzwischen gibt es 100 Alben
In Deutschland debütierte Lucky Luke erstmals im Dezember 1958 im vom Hamburger Semrau-Verlag herausgegebenen Magazin „Der heitere Fridolin". Danach mischten verschiedene deutsche Verlage wie Kauka, Bastei Lübbe oder Koralle bei Lucky Luke mit, weil es für diverse Original-Alben unterschiedliche Rechte-Inhaber gab. Als Ehapa, knapp sechs Jahre nach dem ersten großen Kinoleinwand-Auftritt von Lucky Luke im Streifen „Daisy Town", 1977 die kompletten deutschen Lizenzrechte erwarb, setzte man die bei Koralle neben Einzelpublikationen in der Zeitschrift „Zack" auf 14 Titel angewachsene Album-Liste mit Band 15 fort und hat inzwischen die Alben-Zahl 100 erreicht. Laut Ehapa-Angaben wurden hierzulande bislang rund 30 Millionen Alben verkauft. International erscheinen die Abenteuer des Westernhelden im Jubiläumsjahr 2021 in 33 Sprachen, jährlich werden global rund 300.000 Alben verkauft, deren Gesamtverkaufszahl inzwischen bei 300 Millionen angelangt ist.
Egmont-Ehapa lässt seinen Comic-Star, der hierzulande an Popularität nur von Asterix übertroffen wird, mit einem bunten Strauß von Sonderpublikationen feiern. Es gibt beispielsweise zwei Hommagen herausragender Comiczeichner an den Lonesome Cowboy. In „Wanted" stellt der französische Künstler Matthieu Bonhomme Lucky Luke vor die schwere Aufgabe, sich den Avancen von gleich drei schönen Schwestern erwehren zu müssen. In „Zarter Schmelz" von Ralf König erwirbt sich Lucky Luke das Verdienst, völlig tolerant zwei schwule Cowboys gegen Anfeindungen der Western-Umwelt zu beschützen. Wer möchte, kann auch noch das Sekundärwerk „Lucky Luke – Die Eroberung des Westens", ein „Lucky Luke Kochbuch" oder das „Lucky Luke Lexikon" erwerben. Die ersten Ausgaben der neuen „Lucky Luke Gesamtausgabe" nicht zu vergessen.