Mediziner, Materialwissenschaftler und KI-Experten: Sie alle erwarten einen langfristigen Nutzen von der „Cosmic Kiss"-Mission, die unter anderem der Deutsche Matthias Maurer in den kommenden sechs Monaten auf der Internationalen Raumstation absolviert.
Langweilig wird ihnen sicher nicht werden. Rund eineinhalb Jahre werden die Astronauten Thomas Pesquet aus Frankreich, Matthias Maurer aus Deutschland und Samantha Cristoforetti aus Italien nacheinander auf der Internationalen Raumstation ISS verbringen und über 100 wissenschaftliche Experimente im Rahmen der Mission „Cosmic Kiss" durchführen. 36 dieser Experimente kommen aus Deutschland, vier aus dem Saarland, dem Heimatland von Matthias Maurer. Maurer löst nun seinen Freund und Kollegen Pesquet ab, der nach Übergabe der bereits gestarteten Forschungsprojekte zurück zur Erde fliegt. In der Station, die in rund 400 Kilometern Höhe und mit einer Umlaufgeschwindigkeit von 28.000 Kilometern pro Stunde um die Erde kreist, will der promovierte Materialwissenschaftler Matthias Maurer sechs Monate lang in Schwerelosigkeit forschen, experimentieren und wichtige Erkenntnisse gewinnen, die die Menschheit auf den Gebieten Gesundheit und neue Materialien weiter voranbringen sollen.
Über 100 Experimente
Auch Forschungsinstitute aus dem Saarland haben sich mit Projekten an „Cosmic Kiss" beteiligt, arbeiten mit der Europäischen Raumfahrtorganisation Esa zusammen und blicken in den nächsten Monaten gespannt in den Himmel. Zu ihnen gehören beispielsweise das Universitätsklinikum des Saarlandes (UKS), das in einem Projekt Muskelforschung auf der ISS betreibt, das Institut für Materialwissenschaft und Werkstofftechnik der Universität des Saarlandes mit Forschungsprojekten zu neuen Materialoberflächen sowie das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz DFKI mit dem Einsatz von Verfahren Künstlicher Intelligenz
Was für viele Menschen futuristisch und sehr kostspielig klingt und gleichzeitig so weit weg vom gelebten Alltag erscheint, ist für die ESA-Astronautinnen und -Astronauten harte Forschungsarbeit unter extremen Bedingungen. Im Prinzip führen die Astronauten wissenschaftliche Forschungen, die auf der Erde begonnen wurden, von Physik über Materialwissenschaft bis hin zu Medizin und Biologie, in Schwerelosigkeit fort. Sie bietet neuartige Bedingungen, die es in Laboren auf der Erde so nicht gibt, und damit neue Erkenntnisse.
Wichtige Aufschlüsse zum Muskelschwund und den damit verbundenen Knochenabbau erwartet zum Beispiel Prof. Bergita Ganse vom UKS. „Der Astronaut dient im Zeitraffer als Modell für viele Aspekte des Alterns", sagt sie. „Die damit in Verbindung stehenden Krankheiten verursachen Milliarden Kosten in unseren Gesundheitssystemen." In den ersten fünf bis elf Tagen verliert der Astronaut rund 20 Prozent seiner Muskelmasse, weil keine Erdgravitation auf ihn wirkt. Um das zu verhindern, müsse er mindestens 2,5 Stunden am Tag an Bord der ISS Sport treiben: spezielles Laufen, Krafttraining mit Gummibändern oder Radfahren angepasst an die Verhältnisse in Schwerelosigkeit. Matthias Maurer soll daher mit einem speziellen Anzug die Wirksamkeit von neuromuskulärer Elektrostimulation testen, um Muskelabbau zu verhindern. Regelmäßige Muskelmessungen und Blutuntersuchungen sollen wichtige Ergebnisse liefern, unter anderem auch für in Zukunft geplante längere Mondaufenthalte oder mögliche Marsmissionen. Die seit März dieses Jahres am UKS forschende Professorin Ganse ist Unfallchirurgin, hat unter anderem in der Luft- und Raumfahrttechnik gearbeitet und widmet sich der innovativen Implantatentwicklung.
Ganz anders gelagert sind die Forschungsvorhaben der Materialwissenschaften. Mit gleich zwei Esa-Kooperationsprojekten mit Namen „Touching Surfaces" und „Biofilms" soll Maurer helfen, wichtige Erkenntnisse zur Wirkung von antimikrobiellen Oberflächen zu gewinnen. Hintergrund sind die bis zu rund 150.000 Todesfälle in Krankenhäusern der EU pro Jahr aufgrund multiresistenter Keime, denn jeder Mensch hinterlässt beim Anfassen von Gegenständen wie Türgriffe oder Haltegriffe im ÖPNV bakterielle Spuren. Mit neuen Strukturen und unterschiedlichen Materialien soll das Verhalten von Mikroben in Schwerelosigkeit untersucht werden. An dieser Versuchsreihe nimmt auch das Wendalinus-Gymnasium in St. Wendel teil – und führt die gleichen Experimente mit „Touching Surfaces" auf der Erde durch. Diese sind auch im All durchaus gefährlich: Bereits 2006 wurden eingeschleppte Mikroorganismen an Oberflächen auf der ISS nachgewiesen, die nicht nur für die Gesundheit der Astronauten, sondern auch für Materialien der ISS gefährlich werden können.
Satellitengestützte Erdbeobachtung, Klimawandel, Energiewende, Wetterberichte oder Entwicklung der Landwirtschaft sind ohne Einsatz von Algorithmen Künstlicher Intelligenz kaum mehr vorstellbar. Die Verarbeitung und Analyse riesiger Datenmengen des Satelliten Copernicus mittels KI-Techniken haben die KI-Spezialisten des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz aus Saarbrücken, Kaiserslautern und Bremen im gemeinsamen Transferlab von ESA und DFKI übernommen. „Wir entwickeln beispielsweise KI-Verfahren, um Kollisionen mit Weltraumschrott zu vermeiden. In einem anderen Projekt geht es um die Auswertung der Sonnenaktivitäten und deren Einfluss auf die Erde", erklärt Prof. Dr. Antonio Krüger, Leiter des DFKI in Saarbrücken. Mithilfe von KI-Verfahren lassen sich viel genauere Prognosen beim Wetterbericht oder bei extremen Wetterereignissen wie Starkregen, Buschfeuer oder Überschwemmungen vorhersagen. Die ESA profitiere von der Informatik-Kompetenz im Saarland.
Neue Materialien, Muskelforschung
Natürlich hofft die Politik darauf, dass möglichst viele Forschungsvorhaben in handfeste Anwendungen in der Wirtschaft münden. Das DFKI mit seinen rund 1.250 Wissenschaftlern, Angestellten und studentischen Kräften aus rund 70 Nationen liege mit 100 Startups seit Gründung im Ranking vergleichbarer Forschungsinstitute sehr gut, betont Prof. Krüger. Besonders am Herzen liegt ihm zudem die Zusammenarbeit mit Frankreich auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, denn nur beide Länder zusammen könnten als Pioniere dieses für Europa gewinnbringende Zukunftsthema entscheidend voranbringen. Mit dem Kooperationspartner Inria aus Nancy sei man bereits auf einem guten Weg.
Spitzenforschung und damit auch die Erkundung des Weltalls kosten Geld, doch im Vergleich sei die Weltraumforschung erschwinglich, so Esa-Sprecher Bernhard von Weyhe. „Sie kostet umgerechnet pro EU-Bürger im Jahr rund drei Euro." Die deutsche Mission kostet laut Angaben der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt (DLR) 80 Millionen Euro, bezahlt aus den deutschen Beiträgen für die Esa in Höhe von 140 Millionen Euro, so Volker Schmid von der DLR.
Die mit „Cosmic Kiss" gestarteten Forschungsvorhaben seien eine große Chance für das Saarland, ob nun in der Weltraum-Medizin, in der Materialforschung oder bei Anwendungen der Künstlichen Intelligenz, heißt es. Matthias Maurer gilt als ein Aushängeschild für Spitzentechnologie im Saarland bis ins Weltall. Der Countdown für Weltraum-Exzellenzforschung im Saarland hat begonnen.