Eine Liebe, die es eigentlich nicht geben darf – und doch setzen sich zwei junge Frauen im viktorianischen England über alle Konventionen hinweg. Die Geschichte in „Ammonite" ist so universell, dass sie auch heute noch zutiefst berührt.
Frühmorgens an der Küste im Südwesten Englands. Ein kräftiger Wind treibt die schaumgekrönten Wellen an den menschenleeren Strand. Eine Frau kommt näher, eingewickelt in mehrere Lagen wollener Kleider. Über der Schulter trägt sie eine lederne Tasche. Ihr Blick ist auf die Steine zu ihren Füßen gerichtet. Sie hebt sie auf, prüft sie mit den Händen, wirft sie wieder weg. Da fällt ihr Blick auf den Steilhang, wo ein glänzender Stein aus dem Schlamm ragt. Energisch versucht sie, ihn auszugraben. Es klappt nicht, sie rutscht den Hang hinunter und bleibt mit einem traurig-trotzigen Blick sitzen. Damit stellt Regisseur Francis Lee eine seiner Protagonistinnen in „Ammonit" vor. Es ist Mary Anning (Kate Winslet), eine der ersten Paläontologinnen weltweit, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts einen Namen machte. Bereits mit zwölf Jahren fand sie das komplette Skelett eines Ichthyosaurus, weitere bedeutende Funde folgten. Doch die Anerkennung als Wissenschaftlerin wurde ihr von der männlich-dominierten Wissenschaftswelt verwehrt, da sie Autodidaktin war und nie studiert hatte. Mit ihrer kranken Mutter lebt sie im Örtchen Lyme Regis in Dorset und hält sich mühsam mit dem Verkauf von Fossilien an Touristen über Wasser. Da erscheint eines Tages bei ihr Roderick Murchison (James McArdle), um von ihr die Fossiliensuche zu lernen. Seine Frau Charlotte (Saoirse Ronan) folgt ihm wie ein stiller, blasser Schatten. Der reiche Naturliebhaber will verreisen, kann aber seine kränkelnde Frau nicht mitnehmen und möchte sie in Marys Obhut geben, natürlich gegen Geld. Die sträubt sich zuerst, kann aber das Angebot dann doch nicht ablehnen. Zuerst widerwillig, dann aber mehr und mehr fürsorglich pflegt sie die junge Frau. Charlotte wird gesund und beginnt, sich für Marys Arbeit zu interessieren.
Vergessene Wissenschaftlerin
Kurz darauf buddeln sie zusammen einen großen Stein aus, ein gut erhaltenes Fossil. Die anfängliche Voreingenommenheit der beiden so unterschiedlichen Frauen weicht zunehmend einem Verstehen und einer Annäherung, einer immer gelösteren Stimmung, die dann am Abend den Gutenachtkuss so leidenschaftlich werden lässt, bis sich beide ganz ungehemmt ihrer Lust hingeben. Noch etwas zaghaft, dann aber immer unbeschwerter genießen beide die neu entdeckten Gefühle füreinander. Doch dann erhält Charlotte einen Brief, der alles ändert.
„Ammonite ist ein zutiefst persönlicher Film. Eine Betrachtung darüber, wie man eine Beziehung aus sehr einsamen, unzusammenhängenden Anfängen herausnavigiert. Wie wir lernen, wieder zu lieben, nachdem wir verletzt wurden. Wie wir offen genug sein können, um zu lieben und geliebt zu werden", sagt Regisseur Francis Lee über seinen Film. Mit seinem französischen Kameramann Stéphane Fontaine hat er kraftvolle Bilder gefunden, die die Zerrissenheit, die Angst, die Einsamkeit, aber auch die Freude und Zuneigung der beiden Figuren fast körperlich nachempfinden lassen. Mit Oscar-Preisträgerin Kate Winslet und der Golden Globe-Gewinnerin Saoirse Ronan hat er zudem eine ideale Besetzung gefunden. Die beiden tragen den Film nahezu allein, beherrschen ausdrucksstark mit ihrer Körperlichkeit die Szenen. Jedes noch so kleine Zucken der Mundwinkel, jedes Leuchten der Augen, jede noch so kleine Geste fängt die Kamera ein. Manchmal nur für Sekunden, dafür aber umso intensiver. Die dritte Hauptrolle spielt die wilde Natur der rauen Küstenlandschaft. Als Mary allein am Strand verbissen nach Fossilien sucht, gleichen die tosende See und der stürmische Wind ihrer inneren Gefühlslage. Als sie frei und unbeschwert mit Charlotte im spiegelglatten Meer badet, leuchtet ihr Gesicht im Licht der untergehenden Sonne.
Küstenlandschaft als dritte Hauptrolle
Der britische Regisseur Francis Lee arbeitete zuerst als Schauspieler, bis er mit 40 Jahren ins Regiefach wechselte, um eigene Geschichten zu schreiben und zu erzählen. Sein Regiedebüt gab er 2017 mit „God’s Own Country", einem Filmdrama über einen jungen, englischen Schafzüchter, der eine Affäre mit einem gleichaltrigen rumänischen Wanderarbeiter beginnt. Der Film lief auf zahlreichen Festivals und gewann Preise, darunter für die beste Regie beim Sundance Film Festival 2017. „Ammonite" ist in der Vorauswahl für den Europäischen Filmpreis, der am 1. Dezember in Berlin verliehen wird.
Zum Film inspiriert hat ihn das Leben von Mary Anning, die als Frau aus der Arbeiterklasse in der Wissenschaft zwar eine unbestreitbare Autorität erreichte, die der Öffentlichkeit ihrer Zeit aber weitgehend unbekannt blieb. Die Liebesgeschichte ist zwar fiktiv, aber trotzdem universell. So wie Mary die versteinerten Ammoniten Stück für Stück von ihrer schützenden Hülle befreit, lässt sie langsam ihre verwundeten und verloren geglaubten Gefühle zu und öffnet sich wieder für eine neue Liebe. Das macht sie stark und lässt sie auch gesellschaftliche Grenzen überwinden. Diese Kraft der Liebe berührt damals wie heute.