Der Erzähler und Dramatiker Clemens J. Setz erhielt den Georg-Büchner-Preis 2021, die im deutschen Sprachraum bedeutendste – mit 50.000 Euro dotierte – literarische Auszeichnung. Ein Blick auf sein Werk.
Wer hat im Alter von 38 Jahren schon elf Bücher geschrieben, darunter vier Romane und zwei Erzählbände, und dafür bisher 15 Preise erhalten, vom Bremer Literaturpreis bis zum Kleist-Preis? Der österreichische Erzähler und Dramatiker Clemens J. Setz ist zwar nicht der jüngste Büchner-Preisträger der Geschichte – das war 1973 Peter Handke mit 30 – aber zu den Jüngsten, denen diese Auszeichnung zuteil wurde, zählt er doch.
In der Begründung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung wird Clemens Setz ein „Sprachkünstler" genannt, der „immer wieder menschliche Grenzbereiche erkundet". In der Tat hat der Autor viel gewagt und einiges gewonnen. Von den in der österreichischen Literatur beliebten nationalen Bußübungen – das Land als Hort der Verdrängung – setzt Setz sich schon in seinem Debütroman „Söhne und Planeten" (2007) ab. Er vermisst darin das Verhältnis von Vätern und ihren begabten Söhnen, nicht realistisch, sondern mit schrägem Blick. Da beginnt etwa ein mit Familie geschlagener Schriftsteller plötzlich zu schrumpfen, sobald er etwas Aufregendes oder Anstrengendes erlebt – sehr peinlich beim Liebesspiel mit seiner Geliebten – und wächst wiederum, sobald er ein Buch liest. „Er hatte sich in die Allegorie seiner selbst verwandelt", lautet der Kommentar des Erzählers.
Setz‘ Kreaturen sind alle mehr oder weniger gestört, krank, behindert. Der brillante Roman „Indigo" (2012) beginnt mit einem Befund, ein Patientenblatt des LandeskrankenhausesGraz, ausgestellt auf Setz, Clemens Johann, wie der Autor geboren am 15. November 1982 und von Beruf das, was jener geworden wäre, hätte er sein Studium nicht abgebrochen: Mathematiklehrer. Als solcher wird er mit dem „Indigo-Syndrom" konfrontiert: Die Kinder, die daran leiden, sind Opfer, sie werden ausgesondert oder, wie es politisch-korrekt heißt: „reloziert" (neu eingeordnet; Anm. d. Redaktion); aber vor allem stiften sie Schaden, sie strahlen buchstäblich Gefahr aus, wer die gebotene Distanz nicht einhält, wird krank. Im Roman wird das Rätsel umkreist, ausgelotet, Schicht für Schicht entblättert, aber gelöst wird es nicht.
Viele seiner Bilder wirken wie geträumt
Außerdem scheint es, als würde sich die Aura des Ungesunden des Lesers bemächtigen, ihn infizieren. Oder wie ein Kritiker der „FAZ" gemeint hat: „Man kommt nicht heil davon weg. Es herrscht Suchtgefahr." In dem Roman „Die Frequenzen" (2009) sucht eine Frau bei einer Psychotherapeutin Erlösung von ihrem Tinnitus, den sie als „Tontraube" erlebt, als Brausen und Schwirren, mit gelegentlichen „geisterhafte[n] Fetzen einer menschlichen Stimme". Es gehe darum, so die Therapeutin, das Ohrgeräusch nicht als Fremdkörper wahrzunehmen. Sie solle Tonhöhe und Frequenz des Tons ermitteln und ihn imitieren.
In dem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" (2015) hat die Heldin Natalie, „Bezugsbetreuerin" in einem Behindertenheim, ein ähnliches Problem mit Ohrwürmern; sie bekämpft sie erfolgreich mit Aufnahmen ihrer eigenen Essgeräusche, von Löffelklirren, Milcheingießen, Müsliknuspern. Zumindest der Tinnitus ist autobiografisch verbürgt. In „Bot. Gespräch ohne Autor" (2018) gesteht der angeblich abwesende Autor, so etwas wie Stille schon lang nicht mehr zu kennen.
Eine gewisse Zudringlichkeit eignet auch den Tönen und Wortlauten, die auf Auserwählte synästhetisch wirken, als Form, als Farbe, als sensorische Empfindung.
Synästhesie ist eine Begabung, aber sie kostet Kraft. Natalie, die ihr eigenes System gefunden hat, mit der Existenz zurechtzukommen, tippt die Dinge ihrer Umgebung an „wie Mikrofone. Ein genereller Soundcheck der Welt". Von der sie sich umgekehrt angesprochen und belauscht fühlt. Als Ohrwurm funktioniert auch der Clemens-Setz-Sound. Nach einigen hundert Seiten hat man diesen Ton, diese Stimme im Ohr, sanft, verführerisch, autoritär. Viele seiner Bilder wirken wie geträumt, gleichsam kontrolliert halluzinatorisch: „Im Herbst scheint der Sonnenschein Bartstoppeln zu tragen." Oder, in beiläufiger Mischung der Sinne: „Draußen war der Himmel so blau, dass man eine Stecknadel darin hätte fallen hören." Über einen, der mit dem Rad an einer Kreuzung balanciert, heißt es: „Seine Füße kauten auf den Pedalen herum."
Der Schwindel der Freiheit beim Lesen
Es ist der Schwindel der Freiheit, der einen beim Lesen dieser Literatur erfasst. Wenn Till Eulenspiegel, dessen gar nicht nur lustige Streiche Setz nacherzählt hat, wirklich „die freieste Figur der deutschen Literatur" ist, dann ist Clemens Setz vielleicht ihr freiester Autor. Einer, der anscheinend ohne jede Selbstzensur sein Inneres nach außen stülpt, seine privaten Bilder veröffentlicht, schonungsloser als das jedes Facebook-Album könnte. All das mit maliziöser Fröhlichkeit, Klugheit, Neugier und Witz, auch Kafka ist bekanntlich lustig.
Die Deutsche Akademie befindet, Setz‘ „bisweilen verstörende Drastik" folge „einem zutiefst humanistischen Impuls" der „Menschenfreundlichkeit". Diese begegnet uns jedoch im Gewand der Menschenfurcht. Clemens Setz’ Figuren fürchten andere Menschen, weil sie ihnen alles zutrauen. Sie sind nicht normal, und sie setzen es bei anderen nicht voraus. Das kann ganz Verschiedenes bedeuten, seltsame Tics, harmlose sexuelle Devianzen (abweichendes Verhalten; Anm. d. Red.), Obsessionen oder, vor allem bei den Männern, tödliche Gewalt, Grausamkeit gegen Tiere und Kinder. Wobei die Kinder ihrerseits des Schutzes bedürfen, auch des Schutzes vor ihnen. Setz’ Figuren sind nicht misanthropisch, sie fühlen sich von anderen angezogen, zumindestens fasziniert. Ihr Autor veranstaltet ein mentales Tauziehen und schreibt Dialoge wie Ringkämpfe.
Einmal denkt der Schriftsteller in „Bot" über die Unterstellung einer Kollegin nach, seinem Schreiben fehle das Menschliche, es sei kunstvoll, aber „herzlos". Er selbst möchte es lieber „seelenlos" nennen und vermutet, es seien „solche bizarren und eigentlich stark behindernden Mängel", die „Autoren auszeichnen". Das erscheint stimmig: Der Autor als Mängelexemplar, das seine Defizite mittels Fantasie und großer Kunst wettmacht.